Schulgleiter: Flugschule wie bei Opa

Stellen Sie sich vor, das Autofahren allein erlernen zu müssen. Der Fahrlehrer ruft von außen lediglich gutgemeinte Ratschläge herüber. Und in Schwung kommt die Fuhre nur, weil ein Dutzend Mitstreiter kräftig zieht. Klingt absurd? Ausgerechnet in der Fliegerei mit ihrer anfänglich ungewohnten dritten Dimension war eine vergleichbare Grundausbildung jahrelang die Norm. Schulgleiter hießen die Holzgestelle mit Einzelsitz, deren Ursprung der 1926 entwickelte „Zögling“ bildete. Unverständlich, warum nicht die im Motorflug längst gängige Methode mit doppelsitzigen Maschinen und Lehrer an Bord übernommen wurde. Eine Antwort gibt ein Blick zurück zu Otto Lilienthal, denn wer hätte ihm das Fliegen schon beibringen sollen? Die schrulligen Segelflugpioniere der Rhön erfanden für sich selbst die Fliegerei noch mal und griffen verblüffend selten auf vorhandenes Wissen über Flugphysik zurück. Dieses freiwillige Durchleben einer Technikentwicklung tritt in der Fliegerei immer wieder auf. In den letzten 25 Jahren etwa bei motorisierten Ultralights, die als stoffbespannte Klappergestelle in Garagenbauweise („homebuilt“) anfingen und heute mit modernster Kunststofftechnologie zu den etablierten Konstruktionen aufgeschlossen haben. Neben Geldmangel war es Idealismus, der die frühen Segelflieger viele Mühen auf sich nehmen ließ. Im zwangsläufig nötigen Leichtbau fand der romantische Anspruch, mit weniger mehr zu erreichen, einen natürlichen Weggefährten. Freikletterer, Apnoetaucher und Fixie-Radler können solche Lust am Verzicht auf lästiges Material sicher nachempfinden. Bis 1945 wurden rund 9000 Exemplare industriell gefertigt Der Höhepunkt und Abschluss aller Schulgleiter hieß SG 38, Abkürzung für den Hersteller Edmund Schneider in Grunau im Riesengebirge sowie das Jahr des Erstflugs. Er gilt als das meistgebaute motorlose Flugzeug aller Zeiten: Bis 1945 wurden rund 9000 Exemplare industriell gefertigt, zuzüglich einer unbekannten Zahl von Eigenbauten in aller Welt. Schönheit stand offensichtlich nicht im Lastenheft. Der rustikale Apparat wirkt, als sollte Nosferatu darauf seinen Flugschein machen. Ein Fachwerk bildet den rudimentären Rumpf, dessen gummigefederte Eschenkufe auch harte Landungen wegsteckt. Baumwollstoff umhüllt Leitwerksflächen und Flügel aus verleimten Kiefernleisten und Sperrholz. Stabilität entwickelt die 10,41 m Spannweite messende Flugmaschine jedoch erst durch Straffen der vielen Stahlseile über eine Spindel im zentralen Turm, was ihr zum lyrischen Spitznamen „Himmelsharfe“ verhalf. Als ab Frühjahr 1951 der Segelflug hierzulande wieder erlaubt war, griff man auf SG 38 zurück, bis sich Mitte der fünfziger Jahre die Doppelsitzerschulung durchsetzte. Heute fliegen weltweit noch über ein Dutzend SG 38. Einer der bekanntesten ist die im Jahr 1953 erbaute und 2005 grundüberholte D-7052 des Oldtimer Segelflugclubs Wasserkuppe (osc-wasserkuppe.de). Im Frühjahr und Herbst können interessierte Gastgruppen unter Anleitung von Fluglehrern das Abenteuer eines Schulgleiterfluges erleben. Voraussetzung, um sich im offenen Sitz festschnallen zu dürfen, ist die Alleinflugreife, das Fliegen selbst muss heute zum Glück niemand mehr darauf erlernen. Unverzichtbar ist eine leidensfähige Startmannschaft Gestartet wird auf der Wasserkuppe in traditioneller Art mit Gummiseil. Klingt nach Spielzeug, stellte einst aber die übliche Startmethode auch größerer Segler am Hang dar. Unverzichtbar ist eine leidensfähige Startmannschaft von mindestens sechs Freiwilligen an jedem der beiden V-förmig auslegten, 2 Zentimeter dicken Gummistränge. Aufs Doppelte ihrer 45 Meter Länge müssen sie rennend gedehnt werden, bevor die Haltemannschaft zwei Stricke am Heck des Gleiters loslässt und dieser davonflitzt. Interessant ist eine energetische Betrachtung. Der mit Besatzung rund 200 Kilogramm schwere Vogel erreicht über 60 km/h, also 17 m/s. Die dafür erforderlichen 28,9 kJ Beschleunigungsarbeit entsprechen dem Heizwert von 1 ml Benzin. Den schmalen Wirkungsgrad eines Ottomotors, Luftwiderstand und innere Reibung des Gummiseils großzügig berücksichtigend, könnten etwa 6 ml Treibstoff die Mannschaft ersetzen. Doch wer wollte das? Zum Gesamterlebnis SG 38 gehört körperlicher Einsatz. Die 20 Personen starke Truppe zu diesem Bericht erreichte an einem Wochenende drei Flüge pro Pilot, während willige Teilnehmer auf 40 Einsätze am Gummiseil kamen. Die maximal 20 Meter Höhe und Flugzeiten von 20 bis 30 Sekunden sind ohnehin nur dem abfallenden Gelände geschuldet. Mit einer offiziellen Gleitzahl von 1:10, in Wirklichkeit eher 1:8, schwebt der Schulgleiter kaum besser als eine Cessna. Das von seinen Konstrukteuren einst für die Ausbildung angestrebte simple Flugverhalten können auch heutige SG-Piloten bestätigen. Kleine oder gar keine Impulse in Steuerknüppel und Seitenruder bringt die besten Resultate während des kurzen Hangfluges. Wind in den Haaren wie bei Mopedtempo ersetzt den Fahrtmesser, die Höhe wird visuell geschätzt, denn Instrumente gibt’s nicht. Die besitzen nur einige für Windenstart und Flugzeugschlepp zugelassene Exemplare für größere Flughöhen. Nach der nur wenige hundert Meter weiten Luftfahrt bleibt der Pilot tunlichst sitzen, weil schon leichte Böen den Schulgleiter aufs Kreuz legen. Ein alter Deutz-Traktor zieht ihn auf einem Gestell den Weltenseglerhang hinauf zurück zum Startpunkt. Früher erledigten das Pferdegespanne. Meist jedoch, man ahnt es, die Pilotenschar selbst.