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T. Ammann: "Bits & Pieces" Vorratsdatenspeicherung: Die Geisterfahrer in der Regierung

Wenn selbst Berater der Bundesregierung vor dem neuen Gesetz warnen, muss etwas dran sein, vermutet Thomas Ammann.

Kurt Graulich … der Name sagt Ihnen nichts? Das ist kein Wunder, der Mann arbeitet vorwiegend im Verborgenen. Der inzwischen pensionierte, langjährige Richter am Bundesverwaltungsgericht sichtet zurzeit im Auftrag der Bundesregierung die geheime Selektorenliste - jene Suchbegriffe, mit denen die NSA in Deutschland gezielt nach Informationen jagte. Der Sonderermittler ist außerhalb von BND und Bundeskanzleramt der einzige (!) Deutsche, der diese Liste einsehen darf. Im brandneuen BND-Gebäude in Berlin hat Graulich sich abgeschottet - dort, wo neulich noch alles unter Wasser stand, weil Unbekannte die Wasserhähne aus den Toiletten gestohlen hatten (ob der Generalbundesanwalt deshalb schon wegen Landesverrats ermittelt, ist nicht bekannt).

Graulich muss nun die Liste der zigtausend Telefonnummern, IP-Adressen, Mailadressen oder auch einzelner Firmennamen sichten und danach seinen Bericht verfassen, der dann wiederum den Mitgliedern des NSA-Untersuchungsausschusses übergeben wird. Direkt wollte die Bundesregierung den Parlamentariern die Liste bekanntlich nicht in die Hand drücken, zu groß ist die Angst, die streng geheimen Spionageziele der NSA könnten öffentlich bekannt werden. So groß ist das Geheimnis allerdings nicht mehr, seit man Teile dieser Liste auf Wikileaks einsehen kann: Spionageziele der NSA in Deutschland und Frankreich, darunter Telefonnummern im Kanzleramt, im Auswärtigen Amt, im Wirtschafts-, Finanz- und Landwirtschaftsministerium - und auch in der französischen Regierung, bis hin zu den Handys von Präsidenten, Ministern und Regierungschefs (s.a. Stern-Stimme vom 23. Juli)

Angst vor dem großen Bruder USA

Aber in der Bundesregierung legt man nun mal Wert auf das große Mysterium, auch aus Angst vor dem großen Bruder USA. Die Deutschen wollen nicht noch einmal als unsichere Kantonisten gelten, offenbar will man die gedeihliche Zusammenarbeit der deutschen und amerikanischen Dienste nicht gefährden. "Verschwiegenheit ist die Grundvoraussetzung", sagt auch der Sonderermittler Graulich, und die traut man den Parlamentariern bekanntlich nicht zu - schon gar nicht denen von der Opposition.

Man würde sich übrigens wünschen, Graulich würde öfter mal seine Stimme erheben, denn der Mann hat wirklich Interessantes mitzuteilen, wie man kürzlich erst lesen konnte. In der Ausgabe 209 der "Vorgänge - Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik" ging er im Juli dieses Jahres hart mit dem von Bundesjustizminister Heiko Maas vorgelegten Entwurf für das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ins Gericht. Wir erinnern uns: Maas war lange Zeit strikt gegen ein solches Gesetz, dann war er plötzlich, nach einer atemberaubenden 180-Grad-Wende, strikt dafür - vermutlich, weil sein Parteivorsitzender und Vizekanzler Sigmar Gabriel auch dafür war. Wir empfehlen dem Justizminister (und dem Vizekanzler) dringend die Lektüre des Artikels des Parteifreundes Graulich, vielleicht reihen sie sich dann wieder bei den Gegnern der Vorratsdatenspeicherung ein.

"Ein solcher Vorgang ist beispiellos"

"Ein solcher Vorgang ist beispiellos", schreibt Graulich in dem für einen Juristen bemerkenswert zugespitzt formulierten Beitrag. "In der reichhaltigen Geschichte deutscher Sicherheitsorganisationen im 20. Jahrhundert ist es bislang nie unternommen worden, tatsächlich vom gesamten Postverkehr Absender und Empfänger festzuhalten." Selbst während des Zweiten Weltkriegs habe sich die Kontrolle der Feldpost auf Stichproben beschränkt. Mit der Vorratsdatenspeicherung sei nun erstmal die Erfassung sämtlicher Absender und Empfänger im Bereich der Telekommunikation geplant, wenn auch zeitlich befristet.

Aber diese Speicherdauer, so Graulich weiter, überzeuge weder "dem Grund noch der Dauer" nach. "Die Verkehrsdaten der Telekommunikation eines gesamten Landes mit 80 Millionen Einwohnern werden anlasslos für zehn Wochen gespeichert, und zwar fortwährend." Das sei "bereits dem Grunde nach unverhältnismäßig". Weiter im Text: "Die Auswertung von Standortdaten lässt die Erstellung von Bewegungsprofilen zu" und enthalte damit wichtige Momente der vom Bundesverfassungsgericht breits 2005 "inkriminierten Totalüberwachung". "Das Bewegungsprofil ist aber nicht Ergebnis einer Observation", schlussfolgert Graulich, "sondern einer Form von staatlich instrumentalisierter "Selbstüberwachung" mit Hilfe des eigenen Mobilfunkgerätes. Dies widerspricht dem allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand sich selbst belasten muss."

Kein messbarer Sinn für Strafverfolgung

Was kann die umstrittene Vorratsdatenspeicherung bringen? Auch damit beschäftigt sich der ehemalige Verwaltungsrichter. Keine der bislang bekannten Untersuchungen zur Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung habe einen messbaren Sinn für die Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr erbracht, schreibt Graulich. "Die vielfach bemühten Beispiele terroristischer Anschläge in Norwegen, London, Madrid oder Paris sind weder durch die Vorratsdatenspeicherung verhindert noch aufgeklärt worden. Ihre nachträgliche Aufarbeitung war Frucht traditioneller Polizeiarbeit."

Wohin führt das alles? Graulich greift einen Gedanken des verstorbenen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer auf, der sich mit Nutzen und Risiko des Präventionsstaates beschäftigte. Unser Kontrollbedürfnis, so die Beobachtung, entwickele sich gleichsinnig mit den rasanten Fortschritten der modernen Informationstechnologie und den Möglichkeiten, in Bereiche einzudringen, die einem informationellen Zugriff bisher einfach faktisch verschlossen gewesen seien. In diesem Klima gedeihe ein "Grundrecht auf Sicherheit" – ein Geisterfahrer, der so tue als bewege er sich in derselben Richtung wie die anderen Grundrechte, die Abwehrrechte gegen Eingriffe des Leviathan in die bürgerliche Freiheit sind. Genau das Gegenteil sei aber der Fall.

In diesem Sinne sollten die Geisterfahrer in der Bundesregierung überlegen, ob sie nicht noch einmal um 180 Grad wenden müssten. Noch ist ja Zeit: Ursprünglich sollte das Gesetz schon bis zum Juli umgesetzt werden, das wurde jetzt aber auf den Herbst verschoben.

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