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Flutforschung in den Niederlanden Weltgrößter Wellenkanal traktiert Hollands Deiche

Ein Viertel der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel - und der steigt kontinuierlich an. Halten die Deiche? Die größten künstlichen Wellen des Planeten sollen das testen, notfalls bis zum bitteren Ende.
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Wer wissen will, wie die Niederländer ihre Heimat mit Hightech vor dem Meer schützen, kann sich zum Beispiel an der windigen Küste der Provinz Zeeland umsehen. Am Oosterschelde Sturmflutwehr etwa. Binnen einer Stunde können dessen 62 Stahltore, jedes bis zu 500 Tonnen schwer, herabgelassen werden. Sie schirmen im Fall schwerer Unwetter das dahinterliegende Gebiet vor den brachialen Wellen der Nordsee ab. Im Schnitt wird die Anlage einmal im Jahr genutzt - den Rest der Zeit können Ebbe und Flut einfach hindurchströmen.

Mit gigantischem Aufwand hat das Land seine Küsten so sturmflutsicher gemacht wie nur irgend möglich - schließlich liegt rund ein Viertel des Staatsgebiets bereits jetzt unter dem Meeresspiegel. Und die Pegel werden wegen des Klimawandels immer weiter steigen. Der Uno-Weltklimarat geht bis zum Ende des Jahrhunderts im Schnitt von 26 bis 82 Zentimetern aus, je nachdem, wie viel Treibhausgas ausgestoßen wird. Diese Prognosen sind allerdings auch schon als zu konservativ kritisiert worden.

Und klar ist auch: Der Anstieg kann lokal durchaus weit über dem Durchschnitt liegen - und dürfte außerdem in den kommenden Jahrhunderten weitergehen. Die sogenannten Deltawerke, zu denen das Oosterschelde Sturmflutwehr gehört, sind ein Herzstück der Schutzstrategie für den Südwesten des Landes.

Sehen Sie das Oosterschelde Sturmflutwehr im Video:

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Dass die Küstenschützer andernorts aber durchaus auch auf Lowtech setzen, kann man am Rand der ehrwürdigen Universitätstadt Delft erleben. Hier fühlen Forscher gerade einem alten Deich auf den Zahn, wie er im Nordosten und Nordwesten der Niederlande noch auf einigen Küstenkilometern zu finden ist. Er besteht aus Sand und Ton, die von einer Schutzschicht aus Schotter überzogen sind. Darüber liegen fußballgroße Steinbrocken, mit Beton vergossen.

Nach den niederländischen Deichsicherheitsregeln müsste das Bauwerk einen Sturm überstehen, wie er statistisch alle nur alle dreitausend Jahre vorkommt. Doch tut er das wirklich?

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Land unter: Küstenschutz in den Niederlanden

Foto: SPIEGEL ONLINE/ Christoph Seidler

"Wir wollen herausbekommen, ob die Struktur stark genug ist", sagt Marcel van Gent. Zusammen mit etwa 800 anderen Wissenschaftlern und Technikern arbeitet er am Forschungszentrum Deltares in Delft. Und dort muss der Deich gerade seine Standfestigkeit in einer gigantischen Testanlage beweisen. Im größten Wellenkanal der Welt, dem kürzlich eingeweihten "Delta Flume", lassen van Gent und seine Kollegen stundenlang künstlich erzeugte Wogen auf die realitätsgetreu nachgebaute Hochwasserschutzanlagen krachen. Immer und immer wieder.

"Wir fangen mit einen Sturm an, der Wellen von einem Meter Höhe bringt. Wenn wir sehen, dass die Struktur stabil genug ist, erhöhen wir die Wellenhöhe, erst auf 1,2 Meter und dann immer weiter - bis die Struktur nachgibt." Bis jetzt hat der Deich eine von drei geplanten Testreihen absolviert. Und noch macht er wacker mit, sagt Marcel van Gent.

Der Forscher erklärt im Video, wie sich der Deich hält:

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Womöglich ist der Deich ja stabiler als bisher angenommen. Dann müsste er nicht ersetzt werden - und das Geld könnte für einen anderen Küstenabschnitt verwendet werden. "Man will es ja auch nicht übertreiben", sagt van Gent. "Wenn man zu viel an einer Stelle ausgibt, wird das Problem einfach an einer anderen Stelle auftreten.

Schon bald soll der Testdeich deswegen wieder mit neuen Brechern traktiert werden. Für die Wellen im "Delta Flume" ist eine zehn Meter hohe blaue Stahlwand verantwortlich. Sie wird von vier Spezialmotoren bewegt und schickt so bis zu viereinhalb Meter hohe Wogen auf die Reise durch einen fünf Meter breiten und fast zehn Meter tiefen Betontrog. Nach rund 200 Metern treffen sie dann auf ihr Ziel, den Testdeich. Der ist in einer grauen Leichtbauhalle aufgebaut.

Neun Millionen Liter Wasser

Wenn die Wellen den Kanal entlanggelaufen und auf den Deich gekracht sind, wird ihr Wasser wieder zum Ausgangspunkt zurückgepumpt - und anschließend vom Wellenbrett aufs Neue auf die Reise geschickt. Neun Millionen Liter Wasser zirkulieren in der Anlage.

85 Prozent der niederländischen Hochwasserschutzanlagen ließen sich im "Delta Flume" in Originalgröße testen, sagt van Gent. Auf dem Hof vor der Halle liegen bereits zahlreiche weitere Materialien, die bei kommenden Versuchen zum Einsatz kommen sollen.

Die Niederlande geben rund eine Milliarde Euro pro Jahr für den Hochwasserschutz aus. In Deutschland ist das Ganze wegen der föderalen Struktur schwer zu beziffern. Allein das Nationale Hochwasserschutzprogramm für überregional wirksame Maßnahmen für den Hochwasserschutz, das allerdings auch die Flüsse umfasst, sieht Ausgaben von rund 5,4 Milliarden Euro vor.

Auch in Deutschland gibt es Wellenkanäle, in Hamburg und Berlin zum Beispiel. Und das beeindruckendste Exemplar steht in Hannover, wo Wissenschaftler des Forschungszentrums Küste bis zu zwei Meter hohe Wogen erzeugen können. Doch bei Deltares in Delft rühmt man sich, die größten künstlichen Wellen des Planeten zu schlagen. Der große Maßstab sei wichtig, sagt van Gent - weil sich manche Fragen eben nicht im verkleinerten Modell klären ließen.

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Herausforderung beim Deichbau: Küstenschutz in Deutschland

Foto: Yngve Lange/ DPA

"Das Verhalten von Materialien wie Gras, Ton oder Sand lässt sich nicht skalieren", sagt der Forscher. Man könne ja schlecht eine Graswurzel um den Faktor fünf verkleinern, um zu sehen, wie lange die Abdeckung eines Miniaturdeichs den simulierten Wogen standhalte. Dasselbe, sagt van Gent, gelte auch für die Wasserflüsse innerhalb bestimmter Strukturen. So fließe das Wasser im engen Spalt zwischen zwei Steinblöcken in der Realität viel turbulenter als im verkleinerten Modell. Auch für solche Untersuchungen brauche man Giganten wie den "Delta Flume".

Letzte verheerende Sturmflut ist mehr als 60 Jahre her

Die Niederländer bauen und verbessern ihre Dämme seit Hunderten von Jahren. Katastrophen wie die verheerende Sturmflut von 1953, bei der nach offiziellen Zählungen 1835 Menschen starben, sind selten. Damit das so bleibt, wird das Land seine Verteidigungsanlagen auch immer weiter an den steigenden Meeresspiegel anpassen müssen.

Das Motto kann dabei nicht immer sein, nur höher und höher zu bauen. Wo es sinnvoller ist, werden deswegen auch neue Dünen angelegt, wie etwa bei Petten aan Zee, wo 35 Millionen Kubikmeter Sand verbaut wurden. Sie sollen die Kraft des Wasser schon vor der Küste so weit wie möglich neutralisieren. Außerdem bekommen Flüsse nahe der Mündung mehr Raum, um Probleme mit zurückgestautem Wasser zu verhindern. So hat man bei Nijmegen in einem aufwendigen Projekt das Flussbett der Waal verbreitert.

Auf dem Klimagipfel von Paris wird viel über Anpassung an den Klimawandel gesprochen werden. Darüber, wie ärmere Staaten dabei unterstützt werden können, sich auf steigende Pegel vorzubereiten. Klar ist bereits: Längst nicht überall auf der Welt wird es ein Schutzniveau wie an den niederländischen oder deutschen Küsten geben können. Es wäre schlicht nicht bezahlbar.

Es wird in Zukunft also auch um delikate Abwägungen gehen: Wer kann bei weiter steigenden Pegeln noch geschützt werden - und wer nicht? "Das machen wir in den Niederlanden bereits so", sagt Forscher van Gent. Für verschiedene Teile des Landes gebe es bereits jetzt verschiedene Schutzstufen. Die haben mit der Bevölkerungsdichte zu tun, mit der wirtschaftlichen Bedeutung - und mit der Zeit, die man für eine Evakuierung bräuchte.

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