Mehr als 1.000 russische Sportler sind nach Ermittlungen der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) zwischen 2011 und 2015 Teil einer groß angelegten staatlichen Dopingpolitik gewesen. Nach Angaben von Wada-Chefermittler Richard McLaren handelte es sich um eine "institutionelle Verschwörung" über mehrere Jahre und sportliche Großereignisse hinweg.

Wie aus dem neuen Bericht der Wada hervorgeht, sind nun auch Beweise dafür gefunden worden, wonach Dopingproben von insgesamt zwölf Medaillengewinnern der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 manipuliert wurden. Dabei handelt es sich in vier Fällen um Gewinner von Goldmedaillen.

Demnach sollen all diese Athleten entweder selbst gedopt haben oder von "der systematischen und zentralisierten Vertuschung und Manipulation des Dopingkontrollprozesses profitiert" haben. Die Praktiken betreffen sowohl den Sommer- und Wintersport als auch behinderte Athleten. Die Sportler hätten mit russischen Offiziellen im Sportministerium und dessen Behörden wie der Nationalen Anti-Doping-Agentur Rusada, mit dem Moskauer Kontrolllabor und dem Inlandsgeheimdienst FSB gemeinsame Sache gemacht, um Dopingtests zu manipulieren.

Russische Funktionäre reagierten verhalten auf die Vorwürfe der Wada. "Bis jetzt hat McLaren über Doping in Russland nichts Neues gesagt", sagte der Chef des Sportausschusses in der russischen Duma Michail Degtjarjow und fragte ergänzend: "Wo sind die Beweise und die Zeugen?" Auch Jelena Issinbajewa, Aufsichtsratschefin der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada, zeigte sich skeptisch: Es sei "immer sehr einfach, Schuldige und Unschuldige in einen Topf zu werfen". Sie bezweifele, "dass uns konkrete Beweise für eine Schuld gezeigt werden können, wenn wir darum bitten".

"Alles wird wohl nie bekannt"

McLaren sagte, sein Report untermauere, dass Doping in Russland "in beispiellosem Umfang" stattgefunden habe. "Das russische Team hat die Spiele von London in einer Weise korrumpiert, die nie da gewesen ist. Das ganze Ausmaß dessen wird wohl nie bekannt werden", sagte er und bekannte: "Wir hatten nur Zugang zu einem kleinen Teil der Daten." Nach Angaben des Sonderermittlers werten er und sein Team mehr als 4.000 Dokumente aus, darunter Fotos, forensische Berichte und E-Mails. Hinzu kamen zahlreiche Interviews mit Zeugen.

Bereits Mitte Juli hatte McLaren einen Bericht zum Staatsdoping in Russland veröffentlicht und belegt, dass es eine Verwicklung auch des russischen Geheimdienstes FSB bei der Vertuschung von Dopingfällen bei den Winterspielen 2014 in Sotschi gab. Damals hatte er mitgeteilt, dass zwischen 2012 und 2015 rund 650 positive Dopingproben russischer Athleten in rund 30 Sportarten verschwunden seien.

Auslöser für die Ermittlungen des Kanadiers sind Aussagen von Grigori Rodschenkow, dem früheren Leiter des Antidopinglabors in Sotschi. Er diente der Wada als Kronzeuge, nachdem er nach seiner Flucht in die USA bereits in einem Interview mit der New York Times über die Praktiken während der Olympischen Winterspiele in Sotschi berichtet und sich selbst als Vater des staatlichen, systematischen Dopingprogramms bezeichnet hatte.

Dürfen russische Sportler nach Pyeongchang?

Für Russlands Sportminister Witali Mutko waren Rodschenkows Äußerungen damals eine "Fortführung der böswilligen Angriffe auf den russischen Sport". Für die Welt-Anti-Doping-Agentur dagegen der Anlass, den Juristen McLaren im Mai mit der Untersuchung der Vorwürfe zu beauftragen. Sein Bericht vom Juli und auch sein neuer Report gelten als Grundlage für die Debatte um einen Komplettausschluss der russischen Sportler von den Olympischen Spielen. Für die Wettkämpfe in Rio de Janeiro im August hatte das IOC dies ausgeschlossen und mögliche Sanktionen an die einzelnen Verbände delegiert. Zur Disposition steht nun aber der komplette Ausschluss des russischen Teams von den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang.

Allerdings zeichnet sich keine andere Bewertung der Dopingvorwürfe gegen Russland durch den IOC an. So hatte dessen Präsident Thomas Bach bereits vor Veröffentlichung des zweiten McLaren-Berichts davor gewarnt, voreilige Schlüsse zu ziehen. Offenbar will das Olympische Komitee wieder in kleinen Schritten vorgehen: Die russische Seite zu den Vorwürfen hören, eigene Ermittlungen auf Basis des McLaren-Reports anstellen, alles bewerten und dann bestrafen – aber eben nur einzelne Athleten, Trainer, Funktionäre und nicht Russlands Sport als Ganzes.

Bach verweist in dem Zusammenhang auf zwei IOC-eigene Kommissionen, die den Vorwürfen des Staatsdopings und der Manipulation der Dopingproben russischer Athleten durch den Inlandsgeheimdienst in Sotschi nachgehen. Wie lange die eigenen Untersuchungen dauern werden, ließ Bach offen: "Das liegt in der Hand der Kommissionen." Immerhin: Das IOC stellte der Wada für die weiteren Ermittlungen McLarens eine Finanzspritze von 500.000 Dollar in Aussicht.