Interview
Organist Cameron Carpenter: «Ich bin es leid, der Bad Boy zu sein»

Seit vier Jahren tourt Cameron Carpenter mit seinem High-Tech-Instrument um die Welt. Nun ist er am Piano-Festival in Luzern zu hören. Die Partitur eines Musikstücks ist für ihn so etwas wie ein Computercode.

Katharina Thalmann
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Cameron Carpenter mit seiner Orgel des 21. Jahrhunderts. (Bild: Gavin Evans)

Cameron Carpenter mit seiner Orgel des 21. Jahrhunderts. (Bild: Gavin Evans)

Cameron Carpenter kommt mit seiner International Touring Organ ans Piano-Festival Luzern. Das digitale Instrument ist das erste seiner Art – und es polarisiert die Musikwelt. Auch mit seiner Frisur fällt der 37-Jährige in der Klassikwelt noch immer auf wie Nigel Kennedy in den Achtzigern. Seit vier Jahren tourt er mit seiner High-Tech-Orgel durch die Welt. Eine bemerkenswerte Karriere, die in einem Knabenchor in New Jersey begann. Heute lebt Carpenter in Berlin.

Cameron Carpenter, ist Ihre Orgel immer dort, wo Sie sind?

Wenn die Orgel nicht unterwegs ist, ist sie in meinem Studio in Berlin. Vor dem Konzert in Luzern bin ich in Los Angeles und sehe meine Orgel deswegen bis wenige Tage vorher nicht. Ich habe keine normale Beziehung zu meinem Instrument, wie sie vielleicht ein Geiger hat.

Sie spielen Bachs «Goldberg-Variationen» und Howard Hansons zweite Symphonie, die im Film «Alien» Verwendung gefunden hat. Diese Kombination wird im Programm als «Tabubruch» angekündigt. Ist es das?

Nein, weil ich keine Tabus in der Musik wahrnehme. Das ist eine Konstruktion von zunehmend verzweifelten Marketingabteilungen. Ich bin es leid, der Bad Boy der Orgelwelt zu sein. Zudem bin ich 37 Jahre alt, also wohl kaum mehr ein Jugendlicher.

Cameron Carpenter am Piano-Festival Luzern

Der Orgnist Cameron Carpenter tritt am 23. November am Piano-Festival Luzern (17. bis 25. November) auf. Dieses ist mit 14 Klavierrezitals und Meisterkursen in einer Woche weltweit einzigartig.

Neben Stars wie Igor Levit (17.), András Schiff (19./21.), Grigory Sokolov (22.) oder Andreas Haefliger (24., mit dem Tonhalle-Orchester) treten arrivierte junge Pianisten auf. Der «Tastentag» (18.) thematisiert Tanz und Walzer. Ab dem 20. November treten allabendlich Jazz-Pianisten in Luzerner Bars auf. (um)

Woher kommen diese vermeintlichen Tabus?

Sobald wir an Musik als heiliges Kunstwerk herantreten, haben wir ein Problem. Diesem Klischee will ich mich nicht beugen. Das Problem liegt in der Idee von Musik als einem Sinnbild für Autorität. Aber Kulturen ändern sich. Nur: Die Menschen in der klassischen Musikwelt brauchen Zeit, das zu merken.

Was ist denn Musik sonst?

Der Musiktext, also die Partitur, ist zunächst einmal eine neutrale Information. Ziemlich ähnlich wie ein Computercode. Dieser Text wird von Leuten gekapert, die allerhand Dinge hineininterpretieren. Das ist ziemlich billige Theologie – und eine sehr religiöse Idee.

Sie beschrieben die historisch informierte Aufführungspraxis als eine Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, die Sie nicht besonders interessiere. Was macht Sie zu einem Künstler des 21. Jahrhunderts?

Ich halte mich nicht für einen Künstler. Wenn ich Musik spiele, bin ich näher bei jemandem, der richtig gutes Brot backt oder eine hochwertige Backsteinmauer baut. Das ist eher Kunsthandwerk. Die Leute glauben, ich wolle sie angreifen. Aber das ist nicht der Fall. John Elliot Gardiner beispielsweise ist ein grossartiger Musiker und ich bewundere ihn sehr. Gleichzeitig bin ich überhaupt nicht mit seinem Buch «Bach: Musik für die Himmelsburg» einverstanden. Ich brauche nicht nochmals einen Beleg dafür, dass Bach tiefreligiös war.

Warum?

Meine Sicht auf Musik ist nicht spirituell. Ich spiele das Material als einen Versuch, Wissen zu bekommen, das ich vorher nicht hatte. Wenn jemand aus der Legion von konservativ denkenden Musikleuten sagt: «Das ist heilige Musik!», und wenn das wahr ist, dann wäre es auch wahr, dass sie unzerstörbar ist – ganz egal, wer das Stück wie interpretiert.

Sie treten relativ nüchtern an ihr Repertoire heran.

Meine Erfahrung mit meiner Orgel hat mich dazu gezwungen, Forscher zu werden. Ein grosser Teil meines Musizierens ist durch nichtmusikalische Informationstheorie gespeist. Einen sehr grossen Einfluss auf mich hatte Claude Shannon, der Begründer der Informationstheorie. Er hat in den 1930er-Jahren den digitalen Schaltkreis erfunden.

Und was hat das mit Ihrer International Touring Organ zu tun?

Ich musste herausfinden, was die Orgel fundamental von anderen Instrumenten unterscheidet. Die Lösung: Die Orgel ist binär. Sie ist eine vielfach gebrochene mathematische Einheit. Eine Orgel mit drei Manualen und einem Pedal – das sind eigentlich vier Orgeln. Diese hochentwickelte Maschine ist für mich als Atheist das perfekte Instrument. Nur: Jahrhundertelang wurde in den Kirchen die konzeptuelle Realität dieser Maschine kaschiert, mit aufwendigen Holzverkleidungen und Goldanstrichen.

Dass Sie mit einer digitalen Orgel unterwegs sind, ist also konzeptuell dasselbe, wie wenn sie auf einer «analogen» Orgel spielen würden?

Ich formuliere es anders: Alle Orgeln sind digitale Orgeln. Digital bedeutet: Ja oder Nein, 0 oder 1. Die Orgel wurde schon immer auf eine binäre Art und Weise kontrolliert. Luft oder keine Luft. Meine digitale Orgel verfügt einfach über viel mehr Möglichkeiten als eine analoge. Um 1650 gab es die ersten modernen Orgeln. Von dort an war es unausweichlich, dass es eines Tages digitale Orgeln geben wird.

Wieso wird Ihre Orgel dennoch so kontrovers diskutiert – und rezensiert?

Das liegt nicht am Sound, sondern an den Vorurteilen. Als wir die Orgel bauten, erwogen wir kurz, Orgelpfeifen zu montieren. Aber wir dürfen den Leuten nicht die Chance geben, die Orgel als gefälschte Orgel wahrzunehmen. Die Pfeifenorgel war von 1840 bis zum Zweiten Weltkrieg die Verbildlichung von Musik schlechthin. Das Musikbild von heute ist eher ein Lautsprecher. Das sind visuelle Symbole, auf die man stösst, wenn man die Orgel als konzeptuelle Einheit betrachtet.

Das klingt relativ abstrakt. Wann kommen der musikalische Wert und die Menschlichkeit ins Spiel?

Das Fundament der Musik ist Information. Ich gebe ein Beispiel: Auf der Orgel kann ein Ton unendlich lange gehalten werden. Die Länge des Tons hängt nicht von menschlicher Kondition ab. Aber nach 15 Sekunden hat der Ton eine andere Bedeutung als am Anfang. Stellen wir uns vor, es gäbe eine Enzyklopädie mit allen möglichen Kombinationen unserer Buchstaben: Irgendwo dort drin stünde der ganze Hamlet. Wenn ich die Orgel spiele, berühre ich lediglich für einen Moment einige dieser Einträge in der Orgelenzyklopädie. Es ist diese Selektion, die den menschlichen Aspekt enthält.