Immerhin gibt es nun Mettbrötchen. Und Heißgetränke. Aber trotzdem ist es am Dienstagmorgen so schneematschkalt, dass die Menschen vor dem Berliner Sneaker-Shop sich vermutlich fragen, wie sie Arme und Beine nach so langem starren Ausharren jemals wieder in Normalbetrieb bringen können. "Kutscherfrühstück" nennen sie die Verpflegung im Kreuzberger Overkill-Shop, einem von zwei Läden, die exklusiv den EQT-Support 93/Berlin verkaufen, einen weltweit auf 500 Exemplare limitierten Sneaker, zum Preis von 180 Euro.

Es handelt sich dabei um die Wiederauflage eines Running-Modells aus den Neunzigern mit "energierückführender Zwischensohle". Um das zu bekommen, haben sich eine Menge Menschen am vergangenen Wochenende vor dem Laden angestellt, Sitzgelegenheiten installiert und ihren Platz auf der ordentlich geführten Warteliste damit erhalten, dass sie sich nur für Kaffee- und Toilettenpausen entfernt haben. Ansonsten: physische Präsenz. Sonst wird man gestrichen und die Anreise aus Prenzlauer Berg, Düsseldorf oder Polen war umsonst.

Der Sneaker ist das Produkt einer Kooperation von Adidas und den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG): ein Schuh, mit dem man bis zum 31. Dezember 2018 in allen BVG-Fahrzeugen des Bereichs AB kostenlos fahren darf, weil in eine der Zungen ein Jahresticket eingenäht ist. Man hat es hier sozusagen mit einem analogen Wearable zu tun, basierend auf der Idee, nützliche technische Funktionen in die Bekleidung zu integrieren. Nur ist dieses Ticket eben nicht maschinenlesbar oder anderweitig technisch vielversprechend und damit nicht auf dem Stand von Smart Clothing. Es gibt längst Hemden, mit denen man dank integrierter Solarzellen sein Smartphone aufladen kann. Oder BHs, die die Herzfrequenz messen. Oder Ohrstöpsel, die aktiv den von außen eindringenden Lärm überblenden.

Der Schuh mit dem eingenähten Ticket befindet sich eher noch auf dem Niveau der ersten Multiple-Use-Produkte, die mit Dingen wie Shampoo plus Conditioner oder Strumpfhosen mit Aloe-Vera-Tränkung ihren Lauf nahmen. Der BVG-Sneaker ist nicht moderner als das Klarsichtmäppchen, mit dem Schüler sich früher ihre Monatskarte um den Hals gehängt haben.

Er gilt nur, wenn man ihn paarweise trägt, und zwar am Fuß. In der Tasche zählt nicht. Im Karton auch nicht. Man möchte den Kontrolleuren wünschen, dass sie nicht kurzsichtig sind. Sonst müssten sie in die Knie gehen vor den Schuhen, die an der Außenseite schwarz sind und an der Innenseite schwarz-weiß gestreift. Die an der Ferse jenes graffitifeindliche Tarnmuster in Hellblau, Dunkelblau, Schwarz und Rot tragen, das nicht nur die Sitzpolster der Fahrzeuge, sondern auch weitere Fanartikel der BVG ziert: Babylätzchen, Damenhalstücher, Leggins und Seidenkrawatten. Was der Berliner so braucht, wenn er sich als trendaffin begreift.

Außerdem haben die Sneaker noch jene dicke, weiße, kaugummiweiche, seitlich auskragende Sohlen, die aus jeder noch so zivilen Schuhgröße Elbkähne machen. Dass die BVG-Vorstandsvorsitzende Sigrid Nikutta dazu "Wie cool ist das denn?" ausrichten lässt, klingt zwar nach Jugendsprech der Nullerjahre, ist aber so falsch dann trotzdem wieder nicht, denn nach den rehschlanken Retromodellen sind es nun die fetten Treter, die ihr Revival erleben. In Zeiten von Normcore, der auf Alltagsbedürfnisse herabgedimmten Mode, nennt man die Dinger auch anerkennend "Dad Sneakers".

So was hat Mode ja schon immer gut gekonnt: das Schöne im Hässlichen zu entdecken, wenn das Hässliche nur mit schönen Worten dekoriert ist. Das gilt auch für die BVG, die jede Kritik an ihrem Versagen mit ironischen Kampagnen abfedert und mit dem Slogan "Weil wir dich lieben" alle Berliner so fest umarmt, dass sie sich nicht mehr daraus winden können. Die Schokoherzen von Air Berlin hatten eine ähnliche Funktion. Auch sie ummanteln ein Scheitern an der Dienstleistung mit Liebe, auf jeden Fall aber mit Ironie. Funktioniert vermutlich nur in einer Stadt so, die erst mit dem Attribut "arm, aber sexy" dem Rest der Welt sympathisch wurde.

Weil dieser BVG-Sneaker zwar ästhetisch herausfordernd ist, vor allem aber rar, und weil vermutlich kaum etwas auf die Menschheit so verlockend wirkt wie künstliche Verknappung, kann die Belegschaft des Overkill-Ladens seit einigen Tagen vor der Tür auf eine größere Menge Dauercamper mit Schlafsäcken, Faltstühlen, Fleecedecken und Daunenjacken blicken. Wer einen limitierten Sneaker haben will, muss früh aufstehen, so hat man es vor Jahren schon bei Kanye Wests Yeezys gesehen, jenen beigegrauen schlumpfigen Mesh-Tretern, die für 250 Euro verkauft und hinterher im Internet für 3.500 Euro gehandelt wurden. Nun kommt das Wollen, das ein Warten ist, eben auch nach Berlin. Passt ja.

Bis aus dem Wollen und dem Warten ein Haben wird, geht es übrigens sehr viel ziviler zu als bei limitierten Designerkollektionen-Verkäufen von, sagen wir mal beispielsweise, Hennes & Mauritz. Da haben sich auf Pre-Sale-Veranstaltungen schon sehr unhöfliche Szenen zugetragen. Die Sneakerheads hingegen sind geradezu beamtenhaft organisiert. Wer als Erster kommt, ist Listenführer. Dass eine Liste geführt wird, ist so mit den Läden geregelt: Man zieht nach Listenplatz ein und rangelt nicht rum. Klingt fair. Vielleicht wird es auch noch ein bisschen fairer dadurch, dass man so viel Zeit miteinander verbringen muss.

In Berlin-Mitte, am zweiten Verkaufsort, dem Adidas Originals Flagship Store, liegt Ali Sara, 25, auf Platz 1. Er ist seit Donnerstagvormittag hier, also fünf Tage vor Verkaufsstart, und hofft auf ein Paar in Größe 47. "Die sind für mich, sonst würde ich mir das nicht geben", sagt er. Zunächst alle vier Stunden, nun, da der Verkaufsstart näher rückt, alle zwei Stunden wird hier die Liste kontrolliert, nachts gibt es sechs Stunden Pause. "Wer zu spät zurückkommt, fliegt", sagt Ali Sara.

Ali Sara ist seit Donnerstag vergangener Woche Listenführer beim Adidas Originals Flagship Store. © Carmen Böker für ZEIT ONLINE

Nachrücker gäbe es genug: In Mitte werden 150 Exemplare des Turnschuhs verkauft, von Größe 37 bis 48, in Kreuzberg 350. Vor dem Originals-Store schließen sie am Montag gegen 18 Uhr die Liste, 250 Namen stehen drauf. In Kreuzberg sind es 500.

Manche in Berlin-Mitte haben sich ein Hotelzimmer für die Zeiten zwischen dem Abhaken gesucht, oder sie schlafen ein bisschen in ihrem Auto. Hier sieht eben auch das Warten gediegener aus als in Kreuzberg: Sie zelten auf der Straße, da kann der Kontaktbereichsbeamte noch so viel ermahnen. Weg können sie nicht, weil hier die Zufallsanwesenheitskontrolle gilt, je nach Laune des Listenführers, rund um die Uhr. Wer bis jetzt noch nicht wusste, wie entschlossen Sneakerheads sind, der weiß es jetzt. Entsagungsvoller kann man auch aufs Eigenheim nicht hinarbeiten.

Ali Sara hat bislang 200 Paar Sneaker gesammelt, vier bis fünf davon trägt er, das sind die sogenannten Beater, die sich bei täglichem Gebrauch und wechselndem Wetter irgendwann geschlagen geben werden. Der EQT-Support 93/Berlin wird selbstverständlich kein Beater werden, der bleibt in seiner Box.

Hikmet Sugoer, Berlins wohl bekanntester Sneakerhead, schätzt, dass er rund 1.000 Paar Sneaker besitzt, 300 bis 400 davon seien in Gebrauch, je nachdem, was morgens gerade im Flur steht. "Da bin ich pragmatisch. Ist mir dann auch egal, was die wert wären." Sugoer, der Turnschuhe verkauft und designt, für diverse Hersteller und heute für sein eigenes Label Sonra, hat sich nicht angestellt für den EQT-Support 93/Berlin. "Ist aus ästhetischen Gründen nicht so mein Ding", sagt der 44-Jährige. "Die Idee ist aber super."

Er hat noch einen anderen Grund, warum er da nicht mitmachen möchte: "Leider ist es in Deutschland so, dass die Schuhsammlerszene zu 70 bis 80 Prozent aus Wiederverkäufern besteht, den Markt will ich nicht bedienen. Die Dinger sind zum Tragen gemacht!"

Im Internet, auf eBay, liegen die Preisvorstellungen der Verkäufer mit sicherem Listenplatz am Montagabend schon bei 2.222 Euro. Manche würden sich aber auch mit 800 Euro zufriedengeben. Hält Steven Fischer immer noch für komplett unrealistisch. Er ist in Kreuzberg die Nummer 1 und sagt, 500 Euro wären drin, das sei ja schließlich keine Kooperation mit Louis Vuitton oder so. Steven ist eigentlich noch weniger euphorisch als Ali: "Ich steh auf Adidas, nur deswegen bin ich hier." Etwa 80 Paar der Marke besitzt er schon.

Er wird dann tatsächlich der Erste sein, der mit dem BVG/Adidas-Schuh in der Tarnmusterbox aus den Laden kommt. Für die heimische Kollektion. Nach Leidenschaft klingt das alles leider nicht, was mit den vielen Tagen in der Kälte zu tun haben kann. Nur wirkt diese Befriedigung des Sammlertriebs, der vielleicht irgendwo in jedem Menschen schlummert, ein wenig wie die neue Variante des Briefmarkensammelns. Da sind Modeverrückte mit der neuen Handtasche am Arm schon um einiges quietschiger.

Aber Steven hat vor der Tür schon genug potenzielle Abnehmer, wenn er es sich noch anders überlegt. Auch weniger als 2.000 Euro kann man sich ja immer noch schönrechnen, denn das Grundmodell ohne Tarnmusterferse liegt im Normalpreis bei rund 170 Euro und eine Jahres-Umweltkarte für den Berliner Bereich AB – Bus, Tram, Bahn und Fähre – kostet 761 Euro. Das S-Bahn-Benutzen ist nicht drin, die S-Bahn Berlin GmbH als Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn macht bei der Kooperation nicht mit.

"Für uns ist das eine Werbeaktion, die uns in sozialen Medien schon jetzt viele Sympathien eingebracht hat", hat Petra Reetz, die Pressesprecherin der BVG, erklärt. Aber Werbeaktionen verschwinden, wenn Plakate abgehängt oder ihre Motive nicht mehr im Netz gepostet werden. Was bleibt, sind vielleicht nur Pappschreine in den Wohnungen der Sammler. Was auf jeden Fall schon da ist, ist die Kritik an der Kampagne. Denn die, die sparen müssen, finden es vielleicht nicht ganz so witzig, dass die, die nicht aufs Geld schauen müssen, ein Jahr lang freie Fahrt haben. Ein Sozialticket liegt trotz jüngster Reduzierung immer noch bei 27,50 Euro im Monat.

Doch für lau ist ja trotzdem nichts, denn wer die Sneaker tatsächlich trägt, an jedem Tag des Jahres, um nicht schwarzzufahren, der läuft eben auch bis Silvester 2018 Reklame für ein Unternehmen, das infrastrukturelle Probleme bei der Infrastruktur hat, daraus aber super Kampagnen macht.

Sogar da kann die Schleife der Ironie helfen, wie das Label Vetements bei den Pariser Modeschauen beweisen konnte. Alle Welt hat sich darüber aufgeregt, dass auf dem Laufsteg ein T-Shirt mit dem Originallogo von DHL zu sehen war, alle DHL-Kuriere dieser Welt wurden danach gefragt, was sie denn davon hielten, dass ihr Shirt nun in limitierter Auflage für 250 Euro zu haben sei. Ausverkauft war es trotzdem sofort. Genau wie der BVG-Sneaker am Dienstagvormittag.

Aber nach der Schlange ist immer auch vor der Schlange. Ab morgen verkaufen sie in Kreuzberg den Air Jordon 4 Retro x Levi's, streng limitiert. Die Liste ist seit Tagen geschlossen.