Man könnte fast meinen, dass es sich nicht um dasselbe Thema handelt: Wegen der Verunsicherung durch das Brexit-Votum werde die europäische Wirtschaft noch Jahre belastet. Deutschland sogar stärker, weil es sehr exportabhängig sei, sagen Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Aber das sei in Wirklichkeit gar kein großes Problem, sagt nun Christian Kille, Leiter des Instituts für Angewandte Logistik (IAL) an der Hochschule Würzburg. Grund: „Der Anteil des Warenaustauschs ist überraschend gering. Aus der Perspektive der deutschen Wirtschaft ist Großbritannien nur ein relativ kleiner Partner“, so der Logistikprofessor. Der Brexit werde die deutsche Wirtschaft, insbesondere die Logistikbranche, weitaus weniger treffen, als im Vorfeld der Volksabstimmung in Großbritannien zum Austritt aus der Europäischen Union vielfach befürchtet worden sei.
Diesen Schluss ließen die Erhebungen seines Instituts zu, das die Tonnage und die Umsätze in den Handelsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem Vereinigten Königreich analysiert hat: Die Importtonnage habe 2015 laut Statistischem Bundesamt mit rund 38 Millionen Tonnen zwar mehr als doppelt so hoch wie im Vorjahr gelegen, ist aber laut Kille seit Jahren rückläufig.
Großbritannien wird als Handelspartner unwichtiger
Gemessen an den gesamten Einfuhren in die Bundesrepublik liefert Großbritannien lediglich einen Anteil von drei Prozent aller Importe. Die Ausfuhr aus Deutschland beschränkte sich vergangenes Jahr auf rund 18 Millionen Tonnen, das entspricht vier Prozent des gesamten Exportvolumens der deutschen Wirtschaft.
„Hier zeigt sich klar, dass die über Jahre anhaltende Deindustrialisierung auf der britischen Insel die Bedeutung als Handelspartner immer mehr zurückgehen ließ“, folgert Kille. Das werde noch deutlicher, wenn man berücksichtige, dass 49 Prozent der aus dem Vereinigten Königreich eingeführten Waren Erdöl und Erdgas seien.
Auch wenn man statt der Tonnage die Umsatzwerte von In- und Ausfuhren betrachte, verschiebe sich das Bild nur unwesentlich: Mit 89,3 Milliarden Euro im Export hätten die Britischen Inseln gerade sieben Prozent Anteil, mit 38,3 Milliarden Euro im Import nur vier Prozent.
Henkel rätselt allein über die langfristigen Folgen
Keine großen Brexit-Sorgen macht man sich auch bei Henkel. Der Konsumgüterhersteller habe wegen des Trubels nach der Volksabstimmung über den EU-Ausritt bislang keine größeren Auswirkungen auf die Geschäfte zu spüren bekommen, sagte Finanzchef Carsten Knobel am Donnerstag. Unklar seien zwar noch die langfristigen Folgen, aber der Anteil Großbritanniens am Gesamtumsatz liege bei Henkel bei rund zwei Prozent.
Die Hochschule Würzburg erhebt gemeinsam mit der Gütersloher Agentur Hocke und Partner seit fünf Jahren regelmäßig den sogenannten Im- und Export-Seismografen, der einen genaueren Blick auf die Handelsströme von und nach Deutschland ermöglicht. Bezogen auf das Verhältnis zu Großbritannien, machten besonders Unternehmen in Nordrhein-Westfalen und Bayern die größten Geschäfte, so Kille.
„Aber ganz gleich, welche wirtschaftlichen Verbindungen zwischen der EU und Großbritannien im Zuge des Ausstiegs aus der Gemeinschaft für die Folgezeit ausgehandelt werden, muss das deutsche Unternehmen in aller Regel nicht in Alarmbereitschaft setzen“, beruhigt Kille. Er sieht voraus: „Große Geschäftsvolumina werden den wenigsten wegbrechen, selbst wenn – was kaum anzunehmen ist – die Handelsbeziehungen über den Kanal hinweg komplizierter werden sollten.“
Das DIW fordert schnell klare Verhältnisse
Für die Logistikbranche erwartet der Würzburger Wissenschaftler ebenfalls nur unwesentliche Veränderungen. Es könne allerdings sein, dass die großen Konzerne Standorte auf der Insel aufgeben, um sich stattdessen innerhalb der verbliebenen EU anzusiedeln. Kille: „Hier könnte die Finanzbranche durchaus Vorbild sein.“ Hintergrund: Die britischen Banken würden ihre Zulassung auf dem Kontinent verlieren, wenn es zum Brexit käme.
Das käme einem Geschäftsverbot gleich. Keine gute Perspektive für den Finanzstandort London, aber eine für Frankfurt oder Paris, weil sich britische Banken, Fondsgesellschaften oder Versicherungen dort einen neuen Sitz suchen könnten.
Das DIW rät aber dringend dazu, das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU rasch zu klären, um die wirtschaftliche Unsicherheit von Unternehmen zu reduzieren. Um die Brexit-Folgen zu mildern, solle es die Politik in Erwägung ziehen, Unternehmensinvestitionen direkt zu fördern. Außerdem müsse der Staat auch selbst mehr investieren. Denn die DIW-Forscher erwarten, dass nach dem Brexit-Votum weniger investiert wird. In Deutschland werden Unternehmen demzufolge vor allem weniger Geld in Maschinen stecken.