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Großbritannien muss sich entscheiden - Brexit oder nicht?

Mit Hochspannung sieht Großbritannien einer Entscheidung von historischer Tragweite für das Königreich und die Europäische Union entgegen. An diesem Donnerstag können rund 46 Millionen Briten bestimmen, ob ihr Land weiterhin der EU angehören wird oder das Bündnis von jetzt 28 Staaten verlässt. Das Ergebnis der weltweit beachteten Abstimmung wird für den Freitag in der Früh erwartet.

Großbritannien muss sich entscheiden - Brexit oder nicht?
Großbritannien muss sich entscheiden - Brexit oder nicht?

Selbst Stunden vor Öffnung der Wahllokale (8.00 MESZ/Donnerstag) war der Ausgang des Votums noch völlig unabsehbar. Meinungsforscher sahen bis zuletzt ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Lager - mit ganz leichtem Vorsprung für die Befürworter eines EU-Verbleibs. Viele Wähler waren aber noch unentschlossen. Das zuletzt stark unter Druck geratene britische Pfund erholte sich an den Börsen am Mittwoch leicht.

EU-Politiker fürchten, dass ein Brexit Austrittswünsche in anderen Ländern beflügeln dürfte. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte deshalb im Vorfeld scharfe Warnungen nach Großbritannien geschickt. "Deserteure werden nicht mit offenen Armen empfangen", sagte er mit Blick auf mögliche Verhandlungen mit der EU nach einem Austrittsvotum. "Out is out" - beim Nein ist keine Rückkehr möglich. Im Brexit-Fall plane Juncker keinen Rücktritt, sagte ein Kommissionssprecher am Mittwoch zu entsprechenden Spekulationen.

Ein Brexit könnte jedoch das politische Schicksal des britischen Premierministers David Cameron besiegeln. "Niemand weiß, was geschehen wird", sagte Cameron mit Blick auf den Wahlausgang der Zeitung "Financial Times". Dennoch bereue er es nicht, dass er zu dem Referendum aufgerufen habe. Cameron bekräftigte, dass er in jedem Fall im Amt bleiben wolle. Insider in London bezweifeln jedoch, dass ihm das gelingen wird - vor allem, wenn die Briten für einen EU-Austritt votieren sollten. Sein ehemaliger Justizminister Kenneth Clarke prophezeite Cameron "keine 30 Sekunden" bis zu einem Rücktritt im Falle eines Brexits.

Der Durchschnitt von acht Umfragen seit dem 15. Juni ergibt einen hauchdünnen Vorsprung von 45:44 Prozent für das Pro-EU-Lager. Allerdings seien zehn Prozent der Befragten noch unentschieden, hieß es. Noch vor mehr als einer Woche lag das Brexit-Lager vorn - seit dem Mord an der Labour-Abgeordneten und Pro-EU-Politikerin Jo Cox holte das Drinbleiben-Lager aber wieder auf. Allerdings: Bei der Parlamentswahl vor einem Jahr hatten die Umfragen völlig falsch gelegen. Die Wettbüros sehen eine klare Tendenz zum EU-Verbleib.

Hauptthemen des zeitweise überaus hart geführten Wahlkampfes waren mögliche wirtschaftliche Nachteile durch einen Brexit sowie das Reizthema Migration. Auch die Furcht vor einer deutschen Vormachtstellung in Europa hatte das Brexit-Lager um den Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson und Nigel Farage, den Chef der rechtspopulistischen Ukip-Partei, zeitweise ins Spiel gebracht.

Rund 46,5 Millionen Briten sind aufgerufen, zu den Urnen zu gehen. Die Wahllokale sind am Donnerstag von 8.00 bis 23.00 Uhr (MESZ) geöffnet. Mit ersten Resultaten aus den Wahlkreisen wird am Freitag in den frühen Morgenstunden gerechnet. Ein Endergebnis dürfte erst im Laufe des Vormittags feststehen. Das vermutlich sehr knappe Rennen könnte zu Verzögerungen bei der Bekanntgabe führen.

Am Tag vor der Abstimmung versuchten die beiden Lager noch einmal, alle Kräfte zu mobilisieren. Der Austritts-Wortführer Boris Johnson bezeichnete den Wahltag als "Unabhängigkeits-Tag", an dem die Briten ihre staatliche Souveränität wiedergewinnen könnten. Cameron konterte: "Die Idee, dass unser Land nicht unabhängig ist, ist Unsinn. Diese ganze (Brexit)-Debatte beweist unsere Unabhängigkeit."

Cameron betonte, der Zugang zum gemeinsamen europäischen Markt mit 500 Millionen Einwohnern sei entscheidend für die britische Wirtschaft und damit für den Wohlstand der Briten.

In einer TV-Debatte am Dienstagabend warf Londons Bürgermeister Sadiq Khan seinem Amtsvorgänger Johnson eine Hasskampagne gegen Zuwanderer vor. "Was das Thema Zuwanderung angeht, war Ihr Wahlkampf nicht das 'Projekt Angst', sondern das 'Projekt Hass'", sagte Khan.

Eindringliche Reaktionen gab es indes aus Frankreich und Deutschland. "Es steht mehr als die Zukunft Großbritanniens in der Europäischen Union auf dem Spiel, es geht um die Zukunft der Europäischen Union", sagte der französischen Präsidenten Francois Hollande. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel appellierte an die Briten, gegen einen Austritt aus der EU zu stimmen.

Zahlreiche internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) hatten im Falle eines Brexits vor weltweiten wirtschaftlichen Turbulenzen gewarnt - ebenso zahlreiche EU-Politiker sowie US-Präsident Barack Obama. Auch britische Wirtschaftsverbände und Banken plädierten für Drinbleiben - das Austrittslager tat dies als Panikmache ab.

Auf die Stimmung in Österreich fürchtet Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) selbst bei einem "Ja" zu Brexit keine Auswirkungen. "Ich habe keine Sorge, was Österreich betrifft", sagte Kern am Mittwoch nach einem Treffen mit Juncker in Brüssel. Der SPÖ-Politiker argumentierte, dass es zur "Brexit-Diskussion" mehrere Blickwinkel gebe. Einer davon sei, dass in der "vergangenen Dekade" kein Politiker in Großbritannien "pro EU" argumentiert und erklärt habe, welchen Nutzen eine EU-Mitgliedschaft habe. Die Lehre für Österreich sei daher: "Wir müssen ständig klar machen, welche Vorteile die Zugehörigkeit unseres Landes zur EU hat."

Unterdessen gedachten bei einer bewegenden Feier auf dem Trafalgar Square im Zentrum Londons Tausende der in der vergangenen Woche vermutlich von einem Fanatiker ermordeten Labour-Parlamentarierin Cox, einer vehementen Befürworterin des EU-Verbleibs. "Ein weiteres Mal sind die Extremisten gescheitert", sagte Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai bei der Veranstaltung. "Sie hat ihre Stärke genutzt, um den Stummen eine Stimme zu geben", sagte sie über die Tote. Cox' Witwer Brendan erklärte, seine Frau sei für ihre politischen Sichtweisen gestorben.

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