Wissen

Hightech gegen Raketenangriffe Kann man Atombomben abwehren?

Bereits eine einzige Atomwaffe kann gewaltige Schäden anrichten. Immer wieder gibt es Überlegungen, wie man dieser Bedrohung begegnen könnte.

Bereits eine einzige Atomwaffe kann gewaltige Schäden anrichten. Immer wieder gibt es Überlegungen, wie man dieser Bedrohung begegnen könnte.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das seit Ende der 1980er weitgehend verschwundene Gefühl der atomaren Bedrohung zurück. In der Öffentlichkeit und im Privaten wird wieder über die nukleare Apokalypse gesprochen. Die Lage aus Sicht Deutschlands ist klar: Wenn wir von einem Teil der rund 13.000 Nuklearwaffen weltweit bedroht sind, dann sind es jene in Russland.

Dort werden die eigenen atomaren Fähigkeiten gerade in letzter Zeit immer wieder hervorgehoben. Bekannt wurde ein Ausschnitt aus einer russischen Talkshow, in dem über einen atomaren Angriff auf Deutschland innerhalb von 106 Sekunden gesprochen wurde - und zwar mit der "Sarmat"-Rakete, der weltgrößten Interkontinentalrakete.

Aber kann man Atombomben nicht irgendwie abwehren? ntv.de spricht mit Friedensforscher Jürgen Altmann über existierende Abwehrsysteme, neue technische Ansätze und Science-Fiction-Konzepte.

Existierende Abwehrsysteme

Prinzipiell gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine Atomwaffe ins Ziel zu bringen: Langstreckenbomber, Marschflugkörper, Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie von U-Booten oder von Land aus startende Interkontinentalraketen. Besonders Letztere sind schwer abzuwehren. Der Grund: Sie sind unglaublich schnell, etwa 20 Mal so schnell wie der Schall. "So schnell, dass man Schwierigkeiten hat, irgendetwas dagegen zu unternehmen", sagt Altmann.

Dennoch gibt es Raketen, die sogar Interkontinentalraketen abfangen können. In den USA ist die Ground-Based Midcourse Defense (GMD) mit 44 Abfangraketen stationiert. Israel besitzt die bereits erfolgreich getestete "Arrow 3", über deren Anschaffung auch in Deutschland bereits laut nachgedacht wurde. Russland und China haben ihrerseits Abwehrraketen im Dienst.

Sie alle sollen gegnerische Interkontinentalraketen in der mittleren Flugphase treffen, also noch im Weltraum. Doch wegen der hohen Geschwindigkeiten ist äußerste Eile geboten. "Wenn man weiß, wo sie hinfliegen, dann hat man vielleicht noch fünf oder zehn Minuten, um die Bahn auszurechnen und zu gucken, welches der vorhandenen Raketenabwehrsysteme nah genug am Einflugweg ist, um sie treffen zu können", so Altmann.

Mit sogenannten Kill Vehicles sollen die heranrasenden Gefechtsköpfe gerammt werden. Es ist wie eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel zu treffen. Und der Erfolg ist ungewiss. Nur wenige Tests der westlichen Abwehrraketen sind bekannt, zuletzt waren welche erfolgreich, davor aber oft auch nicht. Eine von der American Physical Society geförderte Studie kam kürzlich zu dem Schluss, dass das US-Abwehrsystem nicht einmal einem begrenzten Atomschlag standhalten könnte.

Zudem wäre es ein Leichtes, Interkontinentalraketen mit Täuschkörpern auszustatten, um die gegnerische Abwehr zu verwirren, sagt Altmann. "Man könnte im Weltraum viele kleine Ballons aufblasen, welche dieselbe Kegelform haben wie die Atomsprengköpfe." Wegen des fehlenden Luftwiderstands würden diese Ballons genauso schnell fliegen wie der eigentliche Gefechtskopf. Es entstünde eine Wolke aus vielleicht 100 Objekten, die aus der Ferne nicht voneinander zu unterscheiden seien.

Und das ist noch nicht alles: Russland und China haben bereits eine neue Art von Atomwaffen in Dienst gestellt: Hyperschall-Flugkörper. Diese fliegen nicht mehr weit in den Weltraum, sondern gleiten in der dünnen Atmosphäre in 20 bis 30 Kilometern Höhe ins Ziel. "Sie können mit kleinen Rudern auch noch Haken schlagen und Bögen fliegen. Das macht die Vorhersage, wo sie ankommen, völlig unmöglich", sagt Altmann. Erst in den letzten ein, zwei Minuten wisse man, wo sie auftreffen. Das reiche zur Abwehr kaum aus.

Die heutigen Abwehrsysteme bieten daher keinen Schutz vor einem Atomschlag einer potenten Großmacht wie etwa Russland. "Dass man in einer Lage ist, alles abzuschießen, was sich nähert, dafür besteht keinerlei Chance", sagt Altmann. "Und nur ein Gefechtskopf, der durchkommt, könnte eine Großstadt zerstören und unermesslichen Schaden anrichten." Allerdings gibt es Überlegungen, Interkontinentalraketen bereits früher zu treffen, wenn sie verwundbarer sind, also kurz nach dem Start.

Idee des "Frühen Abfangens"

Interkontinentalraketen sind zwar schnell, aber innerhalb eines kurzen Zeitfensters nach dem Start sind sie noch deutlich langsamer. Durch die Hitze des Raketentriebwerkes sind sie außerdem leichter zu orten. In dieser Startphase sind sie daher besonders verwundbar. Allerdings ist diese nur etwa drei bis fünf Minuten lang - auch hier ist also Eile geboten.

In den USA wurde bereits die Idee verfolgt, mit starken Lasern von Flugzeugen aus Atomraketen in der Startphase abzuschießen. "Early Intercept", auf Deutsch also "Frühes Abfangen", wird das Prinzip genannt. Eine entsprechend ausgerüstete Boeing wurde im Jahr 2010 zum ersten Mal erfolgreich getestet. Aus Kostengründen wurde das Programm aber eingemottet. "Das System beruhte auf einem chemischen Laser", so Altmann. Eine startende Rakete wird dabei zig Sekunden lang bestrahlt. Das Problem: "Nach 40 Lasereinsätzen ist der Tank leer."

Zudem ist die Reichweite der fliegenden Laser-Waffen auf einige hundert Kilometer begrenzt. Da sie jedoch nur entlang der Grenzen eines gegnerischen Staates fliegen können, sind sie etwa im Fall von Russland völlig nutzlos. "Russland ist zu groß und die meisten Raketenbasen liegen zu weit im Innern, einige tausend Kilometer von der Grenze entfernt", sagt Altmann. Die USA sehen fliegende Anti-Atombomben-Laser daher eher als Schutz vor kleineren Ländern wie Nordkorea oder der potenziellen Atommacht Iran. Das Konzept soll auch weiter verfolgt werden. Künftig allerdings mit unbemannten Drohnen und einem elektrischen Laser.

Traum von Weltraumwaffen

In den 1980er Jahren gab es schon einmal die Idee, mit Weltraum-Lasern einen gigantischen Schutzschirm vor russischen Atomraketen zu bauen. Im Jahr 1983 war die Strategic Defense Initiative (SDI) vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan vorgestellt worden. Eine ganze Reihe verschiedener Hightech-Waffen sollte erprobt werden, um die Möglichkeit eines Schutzschirms vor anfliegenden Atomraketen zu testen. Eine der Ideen waren im Weltraum stationierte Laserwaffen, die Gefechtsköpfe stark erhitzen und dadurch unschädlich machen.

Doch das ist nicht so einfach: "Die Gefechtsköpfe sind kleine Objekte, die auf ihrer Hülle eine Schutzschicht wie auf der Unterseite eines Space Shuttles haben. Diese schützt sie vor der Hitze beim Wiedereintritt in die Atmosphäre", sagt Altmann. Große Mengen an Energie seien daher notwendig, um mit einem Laser durch diesen Thermoschutz hindurch zu brennen. Zudem seien "20, 50 oder 100" mit Lasern bewaffneter Satelliten nötig, damit immer einer nah genug ist, um heranfliegende Gefechtsköpfe effektiv ausschalten zu können.

Technisch ist das machbar, sagt Altmann, aber ein unglaublich großer Aufwand - und unvorstellbar teuer. Bereits ein Studie aus dem Jahr 1987 kam zu dem Schluss, dass das Weltraumwaffen-Konzept der USA kaum umsetzbar ist. "An dieser grundsätzlichen Lage hat sich eigentlich nichts geändert", so Altmann. Und selbst wenn man die astronomischen Mittel dafür hätte: Auch derartig fortschrittliche Abwehrwaffen böten "keine Chance, an eine Abwehrrate von 80 oder 90 Prozent heranzukommen".

Hacker-Attacke auf Atomarsenal

Fortschritte gab es zuletzt jedoch in der Computertechnologie. Könnte man das gegnerische Atomarsenal nicht einfach durch einen Hacker-Angriff lahmlegen? Die Idee klingt verlockend wie einleuchtend: Im Fall einer akuten Bedrohung wird das gegnerische Atomarsenal einfach gehackt und außer Gefecht gesetzt. "Bisher hatte man praktisch keine Hack-Möglichkeit, weil die Nuklearwaffensysteme noch mit den ersten Computertechnologien der 1970er und -80er Jahre funktionierten", sagt Altmann. Doch in jüngster Zeit sei damit begonnen worden, auf Internetverbindung und modernste Computerelektronik umzustellen. Die Systeme seien nun "theoretisch etwas offener für Angriffe über das Netz".

Alle Atommächte seien sich dieser Gefahr natürlich bewusst, so Altmann. "Man wird wahrscheinlich hochintensive Anstrengungen unternehmen, um das zu verhindern. Und wahrscheinlich auch mit Red Teams versuchen, auf eigene Systeme loszugehen." Als Red Teams werden Gruppen bezeichnet, die wie ein Gegner auftreten, um Sicherheitslücken in Computersystemen aufzuspüren.

"Jede der drei große Nuklearmächte wären gerne in der Lage, bei den anderen mindestens die Kommunikation mitlesen zu können. Aber am liebsten würden sie auch gleich die Systeme abschalten können, um einen atomaren Angriff auf die eigene Seite zu verhindern", so Altmann. Ob diese Möglichkeit besteht, ist jedoch unklar. "Wenn man irgendwo versucht, Computersicherheit zu erreichen, dann sicherlich in den Nuklearwaffensystemen."

Neutrino-Strahl durch die Erde

Was bleibt noch an Alternativen? Ein futuristisches Konzept hatten japanische Forscher um den Teilchenphysiker Hirotaka Sugawara im Jahr 2003 vorgelegt: Mit einem starken Strahl aus sehr leichten Elementarteilen, sogenannten Neutrinos, sollten Gefechtsköpfe bereits dort ausgeschaltet werden, wo sie lagern, ganz gleich, wo auf der Erde sie sich befinden.

Denn aufgrund ihrer geringen Masse können Neutrinos ungehindert Hunderte, sogar viele Tausende Kilometer an Gestein durchqueren. Der Neutrinostrahl soll durch das Erdinnere hindurch auf sein Ziel gelenkt werden, etwa einen Atomsprengkopf in einem Bunker. Die Neutrinos lösen im Gestein einen Teilchenregen aus, der auf den Sprengkopf trifft und diesen unschädlich macht, wenn nicht sogar zur Explosion bringt. Der Besitz von Atomwaffen würde damit für jeden Akteur zum Sicherheitsrisiko.

"Es klingt nicht völlig unplausibel", sagt Physiker Altmann zu dem Entwurf. "Zunächst mal ist es aber ein reines Gedankenexperiment." Die japanischen Forscher selbst räumten einige Schwächen ihres Konzepts ein. Für die Erzeugung der Neutrinos wäre etwa ein Teilchenbeschleuniger von 1000 Kilometern Umfang vonnöten, was "völlig irrwitzig" sei, wie sie schreiben. Die Anlage würde zudem wohl mehr als 100 Milliarden Dollar kosten und eine Leistung von 50 Gigawatt benötigen, etwa ein Viertel der derzeit in Deutschland installierten Kraftwerksleistung. "Für die nächsten Jahrzehnte ist das völlig unrealistisch", so Altmann.

Das Problem und die Lösung

Solange es Atomwaffen gibt, werde es auch Bestrebungen geben, sich vor ihnen zu schützen, sagt Altmann. Doch er warnt vor einem gefährlichen Mechanismus: Sobald die Schutzwirkung einer bestimmten Technologie steigt, zieht die Gegenseite nach, um ihre atomaren Fähigkeiten aufrechtzuerhalten. Dies habe bereits die Entwicklung von Hyperschallwaffen durch Russland und China als Reaktion auf die Raketenabwehr der USA gezeigt. "Das Streben nach Abwehrmöglichkeiten erzeugt den Druck zum Wettrüsten und zur Kriseninstabilität", so Altmann.

Am Ende ist womöglich nur eine globale Kooperation zur Rüstungsbegrenzung die Lösung. "Man könnte sich darauf einigen, den Bestand an Kernwaffen bei den großen Atommächten auf je 100 zu begrenzen. Und dann ein Inspektorat zu installieren, welches das kontrolliert", sagt Altmann. Aus Sicht des Friedensforschers gibt es bereits Entwicklungen, die Hoffnungen machen. Etwa der - mittlerweile ausgesetzte - INF-Vertrag von 1987 zur Abschaffung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen oder der 2021 verlängerte New-START-Vertrag zwischen den USA und Russland zur Verringerung strategischer Atomwaffen seien Beispiele dafür. Darauf könne man aufbauen.

Gibt es also Hoffnung? "Das ist eine Frage des politischen Willens und der politischen Einsicht", meint Altmann. Es könnte sich mit der Zeit die Erkenntnis durchsetzen, dass militärische Mittel keine absolute Sicherheit garantieren können. Dann werde vielleicht eine Form gefunden, Sicherheit international zu organisieren - am Ende vielleicht sogar ganz ohne Atomwaffen.

(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 17. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen