Interview

Welche Rolle wird Spiritualität im Arbeitsalltag der Zukunft spielen?

KI, Klimakrise, neue Arbeitsmodelle: Wir haben mit Entrepreneur Cornelius Boersch über die Bedeutung von Spiritualität in der Wirtschaft gesprochen.
Spiritualität in der Wirtschaft
Michael Oliver Love / Blaublut-Edition.com

Cornelius Boersch über die Veränderungen im Arbeitsalltag: "Wenn ich heute leistungsfähig sein will, gehört Spiritualität dazu."

Spiritualität und Wirtschaft waren bisher sicherlich zwei Begriffe, die man nicht spontan im Kopf miteinander verbunden hätte. Zum einen galten spirituelle Einstellungen oder auch Religiosität als absolute Privatsache – sprich, sie finden keinen Platz im Arbeitsalltag oder in der Unternehmenskultur. Zum anderen herrschte bis vor Kurzem in Management-Kreisen das Motto "Work hard, play hard!": Mit wie wenig Schlaf man auskommen kann, schien eine Art Einstellungskriterium fürs Leadership-Team zu sein, und Berater:innen zelebrierten "All-Nighters" wie einen Bonus.

Achtsamkeit als erster Schritt der Veränderung

Mit Covid-19 kam hier eine Zäsur, und langsam, aber beständig scheint sich diese Einstellung zu Spiritualität im Arbeitsumfeld zu ändern. Das Thema Achtsamkeit spielt in fast allen Unternehmenskulturen nun eine Rolle, Gen Z hat den Fokus auf eine Neudefinition der Work-Life-Balance geschärft, und das Bewusstsein für Gesundheit am Arbeitsplatz hat sich verändert. Dazu kommt künstliche Intelligenz, die unseren Arbeitsalltag komplett aufmischt und für laufende Veränderungen im Job sorgen wird.

Das Silicon Valley ist uns hier wie so oft einen Schritt voraus: Tech-Konzerne wie Apple, Google und LinkedIn haben heute alle Meditationsräume in ihren Gebäuden, die Zen-Lehre hat quasi schon mit Steve Jobs als deren Anhänger einen Eingang in die Unternehmensphilosophie gefunden. Die Zeit scheint reif: Die Wirtschaft gibt der Spiritualität einen immer größeren Raum im Job und hat hier gleichzeitig auch ein enormes Potenzial erkannt.

Aber hat sich wirklich etwas verändert? Oder hat sich das Statussymbol Schlafmangel lediglich gewandelt – hin zur Optimierung des Schlafes durch Tracking-Apps? Codiert das Silicon Valley nur die buddhistischen Lehren zu einer kapitalistischen Arbeitsethik um oder findet tatsächlich ein Umdenken statt?

Spiritualität als Teil des neuen Arbeitsalltags?

Fest steht: Die Suche nach einem Sinn im Leben ist tief in unserer DNA verankert. Das hat auch die Wirtschaft erkannt. Gerade im Management und bei Führungspositionen lässt sich das Bedürfnis nach mehr Sinn im Handeln nachweisen – den können nicht nur materieller Gewinn und Selbstbestätigung stiften. Spirituelle Ressourcen und Praktiken könnten einen starken Zusammenhang mit Gesundheit, Zufriedenheit und möglicherweise auch Motivation und Kreativität haben. Religion kann über Belegschaften mit einer hohen ethnischen und religiösen Diversität zum Thema am Arbeitsplatz werden. Das Problem: Die meisten Firmen haben ihr Wertesystem noch nicht ausreichend darauf eingestellt und hinken dieser Entwicklung hinterher.

Wenn auch noch kein Mainstream-Thema, überrascht es vor diesem Hintergrund weniger, dass der diesjährige Unternehmertag am Tegernsee unter dem Motto "The World in Turmoil: Spirituality – The New Key to Success and Happiness?" stand. Der Unternehmertag wurde 2007 von Mountain-Partners-Gründer Dr. Cornelius Boersch ins Leben gerufen und verfolgt das Ziel, mehr als 600 Unternehmer:innen, Investor:innen und Business Angels eine Networking-Plattform zu bieten.

Cornelius Boersch im Interview mit VOGUE

Auch am Unternehmertag wurde das Thema Spiritualität natürlich intensiv diskutiert, nicht nur von den Teilnehmer:innen im Publikum, sondern auch von den Sprecher:innen auf der Bühne. Spiritualität wurde hier als neue Chance für Unternehmen gesehen – da die Kirche nicht in der Lage war, ihr "Produkt" zu updaten. Ebenfalls Speaker bei der Veranstaltung war Reinhard Kardinal Marx, der diesem Ansatz jedoch vehement entgegengehalten hat: Spiritualität sei kein Produkt, sondern ein Geschenk, "bei dem sich der Himmel auftut".

Wir haben Dr. Cornelius Boersch vor Ort getroffen. Er hat nicht nur die Konferenz ins Leben gerufen, er ist auch Entrepreneur of the Year des Jahres 2000, hat seit knapp 30 Jahren in mehr als 400 Unternehmen investiert und war 2009 European Business Angel of the Year. Aktuell hat er gemeinsam mit Crina Ancuta und Dorina Serban das Buch "One: Your Compass to Living Your One Life to the Fullest" geschrieben. Wir haben mit ihm über Spiritualität in der Wirtschaft gesprochen, über die Auswirkungen auf kommende Generationen und darüber, wie auch Spotify-Playlists hier eine Rolle spielen.

VOGUE: Warum haben Sie das Thema Spiritualität für den Unternehmertag 2024 ausgewählt?

Dr. Cornelius Boersch: Ich versuche, Themen aufzugreifen, die noch nicht zu präsent sind, die aber schon in der Luft liegen. Ich reise sehr viel und sehe Trends und Entwicklungen in anderen Regionen der Welt. Und in den letzten Jahren hat das Thema Psychedelika extrem geboomt, die Leute wollen sich damit beschäftigen. Und das ist der Startpunkt, mehr Dinge im Leben zu hinterfragen. Das hat nichts mit Voodoo-Zauber oder in die Zukunft schauen zu tun, sondern es geht darum, bewusster zu sein. Sich die Frage stellen: Wie möchte ich leben?

Urs Golling

Ein weiterer Aspekt, der hier ins Spiel kommt, ist, von anderen zu lernen – wie machen es andere Kulturen? Ich spreche aus eigener Erfahrung, denn auch ich war in diesem Wettrennen von höher, schneller, weiter drin. Das ist auch sexy, man ist auch da im Flow, und ich möchte auf die Vergangenheit nicht verzichten. Aber jetzt ist für mich eine Phase, in der es nachhaltig sein muss.

Welche Rolle wird Spiritualität in der Wirtschaft spielen?

Ich coache auch seit 25 Jahren Gründer:innen und merke, dass das ein Riesenthema ist. Der Bedarf an Coaches in meinem Umfeld ist riesig. Allgemein sprechen wir von 60 bis 80 Prozent der Menschen, die unglücklich mit ihrer Arbeit sind, da muss etwas getan werden. Ich brauche einen Grund, warum ich etwas mache. Demotivierte Mitarbeiter:innen möchte niemand. Je glücklicher man im Job ist, umso produktiver ist man auch.

Viele Konzerne bieten mittlerweile Programme an, die die Mitarbeitenden mehr motivieren. Unsere Firma Humanoo in Berlin beispielsweise bietet Programme zur Mental und Physical Fitness für Konzerne und auch für kleinere Firmen an.

Das Interessante am Thema Spiritualität ist, dass es alle Generationen abholt, von Boomer bis Gen Z. Warum?

Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine starke, vielleicht zu starke Leistungsorientierung gehabt, es ging ausschließlich darum, Karriere zu machen. Und die Einstellung, die damit Hand in Hand ging, war: Man muss auch leiden, das gehört dazu, um erfolgreich zu sein. Aber warum? Vielleicht gibt es auch andere Wege? Die Kosten, die mit extremer Karriere oder dem Business-Gründen einhergehen – wie die Vernachlässigung der eigenen Gesundheit oder der Familie –, wurden nicht berücksichtigt. Und an denen kommen wir nun nicht mehr vorbei.

Was bedeutet das auch für die nachkommenden Generationen?

Dieses Thema beschäftigt mich sehr, auch in Bezug auf meine eigenen Kinder. Wir stehen erst ganz am Anfang dabei, unseren Kindern nicht nur klassische Schule beizubringen, sondern auch, viel wichtiger: Wie lebe ich eigentlich richtig? Da orientieren wir uns komplett an dem Beispiel, das wir von den eigenen Eltern gelernt haben, die in der Regel ganz schön viel falsch gemacht haben. Das würden wir in einem Unternehmen nie machen, sondern würden uns stattdessen umsehen und eine Best Practice anwenden. Da sind wir bisher nicht bereit zu lernen.

Wie kommt es in der Branche an, wenn man einen Unternehmertag unter das Motto Spiritualität stellt?

Am Anfang haben mich manche Leute schon komisch angesehen – aber ich muss mich nicht mehr beweisen, und peinlich ist mir auch nichts mehr. Ich hatte auch den Eindruck, dass viele es gut fanden, dieses Thema, das ja durchaus in der Luft liegt, auch konkret aufzugreifen. Und man darf einen Aspekt nicht vergessen: Nein zu sagen gehört zur Spiritualität dazu. Sagt man zu etwas Ja, zum Beispiel einem Menschen seine Zeit zu schenken, obwohl man das gar nicht möchte, dann sagt man gleichzeitig Nein zu etwas anderem. Ich möchte deshalb viel selektiver werden in allem, was ich mache, dabei, mit welchen Menschen ich mich umgebe, mit welchen Themen ich mich beschäftige. Was ich nicht mehr möchte: Everybody's Darling zu sein.

Wie hat Spiritualität Einzug in Ihren Alltag gehalten?

Mir ist bewusst geworden: Ich habe jetzt noch ca. 12 000 Tage zu leben, wenn ich 90 Jahre alt werde, wie mein Vater. Wir haben nur dieses eine Leben, und da taucht dann schon die Frage auf: Mit welchen Themen will ich mich beschäftigen? Was ist mir wichtig? Daran arbeite ich, und ich weiß, dass ganz viele andere Menschen auch daran arbeiten. Evolutionstechnisch bedingt sind 80 Prozent unserer Gedanken negativ. Das klingt erst einmal sehr viel, aber ist absolut nachvollziehbar: Die Menschen, die vorsichtiger waren und Gefahren wie einen Säbelzahntiger hinter dem wackelnden Gebüsch befürchtet haben, haben auch überlebt. Um aus dieser Schleife zu kommen, brauchen wir die passenden Tools an unserer Seite. Und dafür müssen wir selektiver werden, bewusster leben, entschleunigen.

Wie sieht das konkret aus?

Die Reise zur Spiritualität ist sehr individuell und geht nicht von heute auf morgen. Für mich heißt es, dass ich "Magic Moments" jage. Die Menschen leben so in ihr Leben hinein und machen sich keine Gedanken darüber, was ihre magischen Momente gewesen sind. Aber genau hierfür muss man seine eigenen Tools entwickeln. Wir reden alle immer viel vom Meditieren, aber bei mit funktioniert das einfach nicht. Deshalb habe ich für mich herausgefunden: Ich meditiere anders! Das sind dann beispielsweise Stretching-Übungen, ein Sauna-Gang, oder ich erstelle Playlists auf Spotify – da muss ich konzentriert dabei sein, gleichzeitig tut es mir gut, und ich habe am Ende sogar noch etwas davon, das ich teilen kann.

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