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Ähnlichkeit zu Walen vermutet Forscherin entschlüsselt "Gesang" der Babys

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Die besondere Melodie ihrer Muttersprache erlernen Babys bereits vor der Geburt, sagt Forscherin Wermke.

Die besondere Melodie ihrer Muttersprache erlernen Babys bereits vor der Geburt, sagt Forscherin Wermke.

(Foto: picture alliance / epd-bild)

Kathleen Wermke forscht seit vier Jahrzehnten auf fast allen Kontinenten zu Babylauten, die sie liebevoll "Gesang" nennt. Dabei dringt sie in eine zuvor unentschlüsselte Klangwelt ein und stellt fest: Weinen bedeutet nicht immer Hunger, Schmerz oder Einsamkeit.

Wenn Medien einer Wissenschaftlerin den Spitznamen "Babyflüsterin" geben, ist zunächst Skepsis angesagt. Nicht aber bei der aus Ostdeutschland stammenden Würzburger Professorin Kathleen Wermke. Seit vier Jahrzehnten erforscht sie auf fast allen Kontinenten die Laute der ersten Lebensmonate kleiner Menschen, in denen sich die Winzlinge nur über Weinen, Gurren oder Brabbeln ausdrücken. Kaum vorstellbar, aber die Wissenschaftlerin kann die Töne japanischer Babys von denen französischer unterscheiden.

Für manch eine Mutter oder einen Vater können die bisweilen lautstarken Artikulationen ihrer Sprösslinge schon mal an den Nerven kratzen. Nicht so bei Wermke, die in ihrem nun erschienen ersten Buch liebevoll von "Gesang" (statt zum Beispiel "Geschrei") schreibt, in den kleinen Wesen "Stimmakrobaten in Windeln" erkennt, deren Töne und Klänge "mit einer emotionalen Zauberkraft behaftet [sind], die ihre Wirkung auf Kinder, Erwachsene und sogar Tiere erklärt". Ganz so, als würde die Professorin begeistert einem Hard-Rock-Konzert lauschen, das ebenfalls nichts für jedermanns Ohren ist. Aus Sicht der Autorin orientiert sich der Vortrag der kleinen Erdenbürgerinnen- und bürger dabei an Rhythmus und Melodie der Mutter und ihrem unmittelbaren Umfeld. Daraus erklärt sich auch, warum ein japanisches Baby anders als ein französisches klingt.

Jede Sprache hat ihre Melodie

Weltweit gibt es ungefähr 7000 Sprachen, die sich in 25 Sprachfamilien unterteilen. Sie unterscheiden sich nicht nur durch Syntax, Semantik und Phonetik, sondern auch durch ihre Melodie. Diese musikalische Raffinesse, mit der wir Gesagtes nicht nur verstärken oder abmildern können, sondern die auch jeder Sprache originär innewohnt, wird Prosodie genannt. Genau die - vermutlich wird sie schon in den letzten drei Monaten vor der Geburt im Mutterleib geprägt -, machen sich Babys zu eigen, wenn sie ihre ersten Kommunikationsversuche mit ihrer Umwelt starten, so die Forscherin. Die sind zumeist einfach, bisweilen aber auch komplex gestaltet.

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Ab etwa dem ersten Jahr auf der Erde kann der Mensch Wörter - oder Protowörter - artikulieren. Was aber passiert in den Monaten zuvor? Und wie entwickelt sich sukzessive Sprache, durch die wir uns von anderen Lebewesen unterscheiden? Zum Beispiel von Walen? Auf den ersten Blick - oder besser: dem ersten Hören - nichts. Jedenfalls stimmlich gesehen. Der melodische Naturgesang der Ozeanriesen sei dem der menschlichen kleinen Stimmakrobaten ähnlich: "Die stimmlautliche Vielfalt im natürlichen Weinen, Gurgeln, Prusten, Quieken, Lautieren mit Stakkato, Glissando, Registerwechsel und Silbenbrabbeln" dient der Kommunikation untereinander. Das hat die Biologin dazu gebracht, von Babygesängen zu sprechen.

Stumme Schreie im Mutterleib

Warum untersucht Wermke diese Phänomene? Die frühkindlichen Untersuchungen dienen unter anderem dazu, bestimmte Funktionsstörungen des Gehirns zu eruieren oder Frühdiagnosen von Hörstörungen stellen zu können. Das Weinen ist "die erste stimmlich gesendete Botschaft auf dem Weg zur Sprache". So schreibt die Professorin in ihrem Buch, dass ab der 20. Schwangerschaftswoche "der Fötus über das motorische Repertoire [verfügt], das für das Schreiverhalten notwendig ist: Kieferöffnung, Mundbewegungen, Kinnbeben, Zungenstreckung und Schlucken". Wie schade, dass Eltern die Oscar-reife Protestdarstellung nicht direkt sehen können, sondern dafür den Ultraschall benötigen.

Da Kiefer, Zunge oder Lippen bei Neugeborenen nicht voll ausgereift sind, müssen sie auf das Weinen oder Brabbeln als Kommunikationsmittel ausweichen. Und um ihre verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse anzumelden, wird das Weinen zum modulierten Gesang, der immer komplexer wird und Methode hat. Außerdem, konstatiert Wermke, "ob ein Baby auf gutem Weg in Richtung Sprache ist - einfache Regel: je mehr Melodiebögen im zweiten bis dritten Lebensmonat, desto besser".

Gurren kommt vor dem Brabbeln

Ein Baby trainiert regelrecht, bevor es zur Disziplin Sprechen kommt. Davor muss das kanonische Brabbeln geübt werden. "Keine leichte Übung", wie die Autorin anmerkt, "das erfordert die Koordination von mehr als 70 Muskeln und vieler beteiligter Strukturen, vom Zwerchfell bis zu den Lippen." Auch das Gurren - ein "Komfortlaut -, dient den kleinen Menschen zum nächsten Schritt: dem Brabbeln, das eine direkte Vorstufe des Sprechens ist.

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Zum Babydolmetscher, wie ihn Homer Simpson in der US-amerikanischen Zeichentrickserie entwickelt hat, ist es aber wohl noch ein weiter Weg. Künstliche Intelligenz ist (noch) nicht imstande, die Lautäußerungen der sehr jungen Stimmakrobaten 1:1 zu übersetzen. Dass Eltern das in der Regel relativ gut können, liegt vor allem an ihrer Intuition und ihren Emotionen. Womit sie der KI deutlich überlegen sind.

Das Werk der Gründungsdirektorin und Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen (ZVES) an der Uni Würzburg ist zugleich eine Berufsbiografie. Die Professorin erklärt, zu Beginn ihrer akademischen Ausbildung als Biologin nie im Leben damit gerechnet zu haben, sich einmal mit den Gesängen der Babys zu beschäftigen. Das Buch enthält zudem zahlreiche Verlinkungen zu Soundbeispielen sowie Infoboxen rund um linguistische und biologische Themen zu den Gesängen kleinster Erdenbürgerinnen und -bürger.

Quelle: ntv.de

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