Karaoke Abend
Welchen Song würden Sie beim Karaoke anstimmen?
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Ich habe einen richtig schlechten Tag. Ich bin zwar am anderen Ende der Welt im Urlaub, aber selbst da kann einem einiges die Stimmung vermiesen: Schlechtes Wetter, Kopfweh, unfreundliche Leute – heute ist alles zusammengekommen. Am Abend geh' ich eher lustlos auf Essenssuche und stolpere in die Markthalle ums Eck. Eine richtige Fresshalle mit verwinkelten Gängen, in denen sich die Standeln aneinanderreihen, an denen saftige Spareribs, hauchdünne Pizzas und Burger, Burger, Burger angeboten werden. Mit ihren Tabletts und mit ihren mit Billig-Mojito gefüllten Plastikbechern scharen sich die Leute um die Tische vor einer Bühne. Einheimische wie Touristen kuscheln sich aneinander, Erwachsene wie Kinder. Montags ist hier High Life anscheinend. Ein Mann im Spätherbst seines Lebens wippt im Stechschritt nach vorne und zurück und plärrt "It's my Life" von Bon Jovi in ein Mikrofon. Fuck, es ist Karaoke-Abend. Irgendjemand soll mich bitte betäuben.

Bon Jovi oder Adele?

Ich filme den Auftritt und sende das Video meinem Freund: "Mah, gib dir das LOL" tippe ich ins Handy. Die nächste Sängerin springt voller Freude auf die Bühne. Ein anderer Typ meldet sich gerade für den nächsten Song, er hat sich dafür – mutmaßlich – extra in Schale geworfen: Haare hochtoupiert und mit Haarspray bombensicher gemacht; ein flattriges schwarzes Hemd, offen genug, um sein schütteres Brusthaar zu zeigen, geschlossen genug, dass es classy bleibt; eine enge Hose, die an den Enden ausgestellt ist; und ein Fanklub, der ihn anfeuert, sobald er die ersten Töne von "My Girl" von den Temptations anstimmt. Er singt schief, aber liebt es. Es ist peinlich, aber die Leute feiern es.

Ich hab mich mittlerweile gesetzt und bin komplett in den Karaokeabend reingekippt. Wer bin ich, der hier über die Leute urteilt, wenn sie sich selbst derart feiern und Spaß haben? Nur weil ich mit miesepetriger Stimmung hergekommen bin. Es ist einfach zu geil, die Leute scheißen sich nix. Sie singen mal besser, mal schlechter. Einige werden vom Publikum derart gefeiert, und man glaubt, Gen-Z-Gott Harry Styles oder der Boomer-Rocker Jon Bon Jovi himself steht hier auf der Bühne.

Karaoke Scene - Lost in Translation
natchy99

Es folgen "Valerie" von Amy Winehouse und "Viva la Vida" von Coldplay. Ich frage meinen Freund, der 9.000 Kilometer von mir entfernt in Wien sitzt, welchen Song ich performen könnte. Ich kann nicht singen. Ich kann auch keinen Ton halten. Um ehrlich zu sein, hab ich keine Ahnung, was überhaupt ein Ton ist. Was ist ein A? Was ist ein Cis? Und wie hört man das heraus? Klarerweise schlage ich ihm Adele mit "Rolling in the Deep" vor. Kann ja nicht so schwer sein. Ich schwenke um auf "Riptide" von Vance Joy. Vielleicht ist das leichter zu singen. Oder "Unwritten" von Natasha Bedingfield, denn jeder liebt den Song, da verzeiht man mir auch die schiefen Töne.

Öfter zusammen singen

Ich schreibe meinem Freund, dass wir mal Karaoke singen müssen. Getraut habe ich mich nicht. Ich weiß, mich kennt ja eh keiner, aber etwas Mut hätte ich mir schon antrinken müssen. Als Hater bin ich in den Abend rein, als Karaokegläubiger geh' ich wieder heraus.

Die Hochzeit meines besten Freundes
Love Love

Mein letztes Mal Karaoke ist Ewigkeiten her. Ich hatte ganz vergessen, dass beim Karaoke jeder gleich ist. Die guten Sänger und die schlechten Sängerinnen werden gleichermaßen abgefeiert. Was zählt, ist der Spaß. In der kollektiven Ekstase entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, das man sonst eben nur bei Konzerten oder Fußballspielen erlebt. Hier gibt es keine Scham, hier sind alle gleich, und das gehört zelebriert. Das sollten wir alle eigentlich viel öfter machen. Vielleicht war das auch die Idee von Shigeichi Negishi, dem Erfinder des Karaoke: Die Leute z'sammenbringen und eine gute Zeit haben. Der Autoradiohersteller hat das Mitsingen nämlich automatisiert und hat 1967 in einer Bar in Japan die erste Karaoke-Maschine aufgestellt. Am 15. März ist er 100-jährig verstorben. (Kevin Recher, 20.3.2024)