Selbstverständlich glaube ich an Engel!

Ein Cocktail mit dem harmlosen Namen Angel Face lässt unseren Autor darüber nachdenken, wie Engel eigentlich aussehen. Denn dass es sie gibt – daran hat er keine Zweifel. 

Foto: Erli Grünzweil

Neulich entdeckte ich auf einer Cocktailkarte einen Drink namens Angel Face. Erst dachte ich an Leonardo DiCaprio und wie er in Titanic dramatisch im Eismeer versinkt. Dann erkannte ich meine Chance, ein paar Gedanken über Engel loszuwerden. Und wenn Sie jetzt zu Recht einwenden, dass das hier eine Getränke- und keine Religionskolumne sei, dann verrate ich Ihnen das Grandiose am Beruf des Getränkekolumnisten: Man tut so, als würde man über einen Cocktail schreiben, aber in Wahrheit mogelt man eine Erkenntnis oder Provoka­tion in den Text, von der man denkt, dass die Welt davon erfahren sollte. Falls Sie auf derartige Belästigungen keine Lust haben, springen Sie gern direkt zum Schluss, da geht es um den Cocktail.

Schon als kleiner Junge war ich überzeugt, dass das, was wir so leichtfertig »die Wirklichkeit« nennen, nicht alles sein kann. Dass es eine zweite, unsichtbare Welt geben muss. Im Gegensatz zu anderen, die erwachsen und vernünftig werden, habe ich diesen Glauben nie verloren, im Gegenteil, er ist stärker geworden. Inzwischen kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass die schnöde Realität alles sein soll. Und wenn Sie jetzt fragen: Glaubt der Spinner womöglich an Engel? Dann sage ich: Aber selbst­verständlich! Und damit bin ich nicht allein: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 glauben 40 Prozent der Deutschen daran, dass es ­Engel gibt, darunter auch Konfessionslose.

Wie sehen Engel aus? Ich weiß es nicht. Früher habe ich sie mir als schöne Jünglinge vorgestellt, eher blass, elegante Züge, gelocktes Haar. Inzwischen glaube ich, dass sie fast jede Gestalt oder auch überhaupt keine annehmen können. Glaubt man Jesus, sind sie geschlechtslos. Im Markus-Evangelium sagt er: »Wenn nämlich die Menschen von den Toten auferstehen, werden sie nicht mehr heiraten, sondern sie werden sein wie die Engel im Himmel« – das gefällt mir gut (und einigen Feministinnen sicher auch).

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Vor Kurzem ist ein tolles Buch des New Yorker Essayisten Eliot Weinberger über Engel erschienen. Wer es liest, kommt aus dem Staunen und Grübeln gar nicht mehr heraus. Ein Buch, kindlich und ernsthaft, verspielt und intellektuell, am Ende findet man die Idee, dass es Engel geben könnte, gar nicht mehr so abwegig. Besonders fasziniert hat mich die Frage, wie viele Engel es eigentlich gibt: In der Offenbarung ist von »zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend« Engeln die Rede. In den Apokryphen (die nicht zum Kanon der Bibel gehören) sind es 34.720.000.000. Dazu kommen viele Kohorten gefallener Engel. Und wir denken immer, es gäbe viele Chinesen.

Ein Geständnis: Lange fand ich meinen Vornamen eher so mittelgut. Tobias, dachte ich, na ja, alte Bundesrepublik, Siebzigerjahre – elegant ist was anderes. Aber dann entdeckte ich in der Galleria Borghese in Rom ein Gemälde mit dem Titel Tobias und der Engel aus dem Jahr 1527. Zu Hause las ich nach, was es damit auf sich hat: Im ebenfalls apokryphen Buch Tobit des Alten Testaments wird beschrieben, wie der junge Tobias auf einer Reise vom Erzengel Raphael begleitet wird, der ihm später hilft, seinen Vater durch die Galle ­eines Fisches von der Blindheit zu heilen. Was soll ich sagen? Ich war versöhnt, und ja, manchmal stelle ich mir vor, dass Raphael auch mich begleitet, dass er vielleicht sogar über mich wacht, wenn ich eine Reise mache. Sie können gern darüber lachen, aber mir hilft es.

Ach ja, der Angel Face besteht zu je gleichen Teilen aus Gin, Calvados und Apricot Brandy (einem Likör mit Aprikosen­aroma). Starkes Zeug! Der Name geht möglicherweise auf den Gangster Abe Kaminsky zurück, ein Mitglied der Sugar House Gang in Detroit, die während der Prohibition Alkoholtransporte überfiel und dabei bis zu 500 Morde begangen haben soll.