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Ein seltener Einblick 

So leben Kinder, wenn sie vom Amt aus der Familie geholt werden

Greifswald / Lesedauer: 6 min

Auch in MV werden immer wieder Kinder aus Familien geholt. Sie werden in Obhut durch das Jugendamt genommen. In Greifswald gibt es nun ein neues Angebot.
Veröffentlicht:09.04.2024, 20:45

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Es ist immer ein harter Eingriff: Ein Kind wird vom Jugendamt zum Schutz aus seiner Familie geholt. Die Kinder werden in Obhut genommen, untergebracht, betreut und versorgt.  Probleme in der Schule, Vernachlässigung, Überforderung der Eltern, Misshandlung und Gewalt, sexueller Missbrauch: Die Fälle, in denen Kinder geschützt werden müssen, sind vielfältig. 

1432 „vorläufige Schutzmaßnahmen“

254.343 Kinder und Jugendliche lebten zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern. Einen Bruchteil nahmen die Jugendämter im Jahr 2022 in Obhut.

So kam es laut dem Statistischen Jahrbuch zu 1432 sogenannten „vorläufigen Schutzmaßnahmen“ in MV. 856 Jungs und 576 Mädchen kamen in Obhut. Anfang des Jahrtausends kam es dazu noch seltener. 1056 Kindern und Jugendliche waren es im Jahr 2000.

Dazu der Hinweis: Ab 2015 kam es vermehrt auch zu „vorläufigen Schutzmaßnahmen“ für unbegleitete minderjährige Asylbewerber, die aus dem Ausland eingereist waren. 2000 gab es noch keinen Fall. Mit der Flüchtlingskrise 2015 schoss die Zahl auf 452 Fälle hoch. 2022 wurden dazu 335 Kinder und Jugendliche (13,2 Prozent aller Fälle) gezählt.

Die "KOAH 2" hat nun die Arbeit in Greifswald aufgenommen.
Die "KOAH 2" hat nun die Arbeit in Greifswald aufgenommen. (Foto: Maximilian Tabaczynski)

In Vorpommern kümmert sich bei einer Inobhutnahme die Arbeiterwohlfahrt (AWO) um die Kinder und Jugendlichen. Dafür gibt es jetzt unter anderem die neue Einrichtung „KOAH 2“ in Greifswald. Schon in Anklam gibt es die Inobhutnahmestelle „KOAH“. Die Abkürzung „KOAH“ steht für den Titel: „Kompetenz aus einer Hand“. Auch in Eggesin betreibt die dortige AWO einen weiteren Standort in Vorpommern.

Schutz und Ruhe auf 225 Quadratmetern

In der Hansestadt Greifswald gewährt die Organisation einen seltenen Einblick in die Räume. Hier sollen Kinder seit dieser Woche betreut werden. 

Von einem langen Flur hinter einer milchigen Glastür gehen die Zimmer für die Kinder und Jugendlichen ab. Davor hängt ein Briefkasten. Die Fenster sind mit Schlüsseln und Schlössern versehen, Sichtschutz soll vor Blicken von außen schützen.

Auf 225 Quadratmetern sollen Kinder und Jugendlich hier Schutz und Ruhe in einer Krisensituation finden. „Im Fokus steht das Ziel, die Krisensituation zu bewältigen, die Kinder und Jugendlichen zu stabilisieren und zu entlasten“, heißt es zu „KOAH“.  

Ansonsten erinnert in den Räumen vieles an ein ganz normale und frisch renovierte Kinder- oder Jugendzimmer. Schrank, Teppich, Bett, Schreibtisch, Lampe und Stuhl, ein Wäschekorb, ein Bild, Rollos, ein Brandmelder.

So sieht ein Zimmer dort aus.
So sieht ein Zimmer dort aus. (Foto: Maximilian Tabaczynski)

In einer Wohnküche hängt ein großer Fernseher, es gibt einen Schrank mit Spielen. Ein Hauswirtschaftsraum mit Waschmaschine ist ebenso vorhanden. Essen sei ja auch das Wichtigste, heißt es. 

Ein Teil der Wohnküche 
Ein Teil der Wohnküche  (Foto: Maximilian Tabaczynski)

Bett ohne Bedingung

„Das Jugendamt tritt die Entscheidung, ob ein Kind in Obhut genommen wird. Es schätzt ein, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt“, erklärt Jan-Birger Häse. Er ist Bereichsleiter der Kinder- und Jugendhilfen bei der AWO Neubrandenburg-Ostvorpommern.

Für die Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) von Kindern und Jugendlichen gibt es in den Räumlichkeiten vier Plätze. Doch nicht nur das, sondern die AWO hat noch zwei zusätzliche Zimmer in Greifswald. Sie sind für das neue Angebot Bob. Das steht für „Bett ohne Bedingung“.

Daran könnten Jugendliche ab 16 Jahren teilnehmen. Es sei ein besonders „niedrigschwelliges Angebot“, heißt es. Für Jugendliche, die sich u. a. in krisenhaften Lebensumständen befinden, obdachlos oder davon bedroht sind, andere Jugendhilfemaßnahmen erfolglos durchlaufen haben oder nicht bereit sind mitzuwirken.  

Jan-Birger Häse und Annett Rost in einem Zimmer des Projekts „KOAH 2“.
Jan-Birger Häse und Annett Rost in einem Zimmer des Projekts „KOAH 2“. (Foto: Maximilian Tabaczynski)

„Wenn Kinder oder Jugendliche bei uns sind, geht es um die Klärung der Krise und die Perspektivplanung. Wir wissen selbst zu Beginn nicht, was die Kinder alles ertragen haben“, erklärt Annett Rost, die für die Einrichtung zuständig ist.

Manche sind schon froh über ein eigenes Bett

„Manche sind schon froh, wenn sie ein eigenes Bett haben oder jemand zum Reden. Andere wollen ihre Ruhe, brauchen Zeit zum Nachdenken oder suchen Beschäftigung und Ablenkungen. Jedes Kind ist eben individuell“, berichtet Rost weiter. 

Die Kinder in Obhut sollen, wenn es geht, ihre Tagesstruktur behalten. Sie sollen weiter in ihren Kindergärten oder in ihre Schule gehen. In ihrem Freundeskreis, dem Sportverein und dem Umfeld bleiben. Daher sei die Einrichtung vor Ort auch wichtig.  

Ein anderes Zimmer u.a. mit Bett, Stuhl, Schrank, Lampe, Tisch und Sichtschutz 
Ein anderes Zimmer u.a. mit Bett, Stuhl, Schrank, Lampe, Tisch und Sichtschutz  (Foto: Maximilian Tabaczynski)

„Aber wir haben auch Kinder, die die Tagesstruktur nicht annehmen können. Und wo wir trotzdem gewährleisten müssen, dass das Wohl des Kindes gesichert ist. Sie müssen versorgt werden, die Möglichkeit haben zu duschen und zu essen“, erklärt Häse. 

Auch dafür wurde das „Bett ohne Bedingung“ geschaffen. „In ganz MV gibt es so etwas nicht“, heißt es weiter. „Bob“, wie es auch genannt wird, sieht vor, dass die Jugendlichen (16–18 Jahre) in der Einrichtung schlafen und diese am nächsten Morgen wieder verlassen. Für die Versorgung mit Essen gibt es dann ein „Carepaket“. Zwei Plätze gibt es dafür.

Diese Besonderheit gibt es in Greifswald

Manche Jugendliche „wollen lieber mit ihren Freunden und Bekannten am Tag abhängen“, so Häse. Abends finden die Jugendlichen dann in der Einrichtung zumindest einen Schlafplatz, Essen und Gespräche. Ein Ziel sei es, die Jugendlichen über den Aufbau von Beziehungen für andere Maßnahmen aufzuschließen. 

Die Bäder sind barrierefrei.
Die Bäder sind barrierefrei. (Foto: Maximilian Tabaczynski)

Neben dem Bett ohne Bedingung hat der Greifswalder Standort auch noch eine weitere Besonderheit. Hier können auch Kinder mit Beeinträchtigungen aufgenommen werden. Die Bäder seien rollstuhlgerecht. Der Zugang zu den Räumlichkeiten sei durch einen Fahrstuhl möglich. Ebenso sei es in den Zimmern möglich, dass auch Geschwisterkinder gemeinsam unterkommen. 

Und das mit den Briefkästen an den Zimmern erklärt Annett Rost dann auch noch. „Da stecken wir Motivationskarten für die Kinder ein. Um sie mit positiven Botschaften zu bestätigen, zu unterstützen und ihre Stärken zu fördern.“

Vor den Zimmern hängen Briefkästen.  
Vor den Zimmern hängen Briefkästen.   (Foto: Maximilian Tabaczynski)

Einige Kinder blieben ein paar Wochen, manche ein paar Monate. Solange, bis eben klar sei, wie es weiter gehe. „Es gibt Kinder, die gehen wieder nach Hause, erhalten Unterstützung in Form von ambulanter Hilfe. Andere Kinder werden in Wohngruppen vermittelt. Daran hängt auch, wie lange sie bei uns in der Inobhutnahme sind“, so Rost.

Eigenes Zimmer auch für die Kollegen

Der Job ist eine 24-Stunden-Angelegenheit. Wenn das Jugendamt, das auch die Kosten trägt, entscheidet, dass ein Kind in Obhut genommen werden muss, bekommt die AWO einen Anruf.  Das kann jederzeit passieren. Zudem gehe es auch um die Aufsichtspflicht für die Kinder. „Die Kollegen schlafen hier“, betont Häse deshalb. Dafür gebe es ein eigenes Zimmer.

Und immer bleibt die Mühe um ein gutes Ende. Bereichsleiter Häse sei nun 16 Jahre dabei. „Meine ersten Klienten habe ich letzte Woche getroffen. Der ist ein wirklich toller junger Mann geworden. Er studiert jetzt und hat mir gesagt, wie wichtig es war, dass jemand da war und ihm das Gefühl gegeben hat, dass ihn jemand unterstützt und hilft. Das war für mich ein toller Moment.“