Streetwear-Kultlabel :
Für wen ist Carhartt eigentlich?

Von Adrian Fekete
Lesezeit: 5 Min.
Zwei junge Frauen mit Skateboards und Carhartt-Hosen im Jahr 2000 bei einem Festival
Carhartt WIP ist ein Kultlabel, seit über 30 Jahren beliebt bei Skatern, Rappern, Handwerkern und auch Mitarbeitern von Kreativagenturen. Wie hat das angefangen, und für wen ist das Ganze wirklich?

Die Vermarktung von Streetwear ist mehr Alchemie als Wissenschaft: Es gibt keine Schemata, die man befolgen kann, denn das würde eine Marke zu berechenbar und automatisch zu uncool machen. Das Feld lebt von Überraschungen genauso wie vom Vermitteln des Gefühls, dass der Kunde etwas Neues entdeckt hat – auch wenn das Marketingteams in etlichen Meetings vorbestimmt haben. Was eine Saison lang funktioniert hat, kann in der nächsten schon in die Hose gehen. Umso wichtiger ist es, die Balance zwischen altbewährten Klassikern und Neuerungen zu halten.

So eine Marke ist auch Carhartt, besser gesagt Carhartt WIP, das Kultlabel, das dem anderen (fast) gleichnamigen Label entsprungen ist, doch extrem unterschiedlich agiert. Seit über 30 Jahren bleibt das Unternehmen beliebt bei Skatern, Rappern, Handwerkern und auch Mitarbeitern von Kreativagenturen. Doch für wen ist das Ganze eigentlich wirklich?

Anfänge als Arbeitskleidung

Die Geschichte von Carhartt beginnt 1889 in Dearborn, Michigan, im Mittleren Westen der USA. Damals wuchs das Schienennetz des Landes rasant und damit auch die Nachfrage nach Arbeitsbekleidung, die etwas aushielt. Hierfür soll sich die Firma an die Vorgaben von Eisenbahnarbeitern orientiert haben, denn die wussten, welche Strapazen ihren Hosen, Jacken und Schürzen am meisten zusetzten.

Streetwear bei Jugendlichen: Tasche von Carhartt, Pullover von Stussy
Streetwear bei Jugendlichen: Tasche von Carhartt, Pullover von StussyLucas Bäuml

Im Laufe der Zeit wuchs die Beliebtheit, und es wurden neue Fabriken in weit entfernten Orten eröffnet, unter anderem in Kanada und Großbritannien. Auf großen Bauernhöfen, an Fließbändern und Bohrinseln sah man immer mehr von der typischen Detroit Duck Jacke oder den Latzhosen.

Wie die mit Stolz von Gewerkschaften produzierte Ware seinen Weg in die Subkulturen schaffte, lässt sich nicht an einem Punkt festmachen, aber die Verbindung von Street Art, Skatern und Hip-Hop schaffte für viele „Workwear“-Marken wie Timberland, Dickies oder auch Carhartt einen fruchtbaren Boden, um ein junges Publikum anzusprechen, das vielleicht nicht mehr Schienen verlegen musste, aber auch definitiv nicht in Krawatte und Bundfaltenhose gesehen werden wollte.

WIP wird geboren

So kam es, dass hundert Jahre nach der Firmengründung der Schweizer Unternehmer Edwin Faeh die europäischen Lizenzrechte an Carhartt erwarb und mit seiner eigenen Streetwear-Marke Work in Progress verknüpfte. Carhartt Work in Progress (kurz WIP) wurde geboren und begann sich komplett der Jugendkultur zu widmen, indem sie Skater, Rapper und Graffitikünstler einkleidete und Geschäfte in den angesagtesten Vierteln Europas eröffnete.

Daunenweste von Carhartt WIP
Daunenweste von Carhartt WIPCarhartt

Plötzlich war Carhartt zwar nicht mehr Made in USA, aber dafür erreichbar, tragbarer und trendbewusster. Bis heute orientiert sich WIP an den ursprünglichen Designs, aber wandelt sie oft leicht ab, um mit industrieweiten Farbtrends mitzuhalten und auch die weibliche Kundschaft zu bedienen.

„Die Marke hat eine Menge Geschichte und ‚Authentizität‘, auch wenn dieser Begriff mittlerweile weichgespült ist“, sagt Derek Guy, ein Journalist und Experte für Männermode aus San Francisco. „Das gibt Carhartt sehr viel Ansehen als Marke.“

Als 2011 im Zuge der Unruhen in London das Geschäft von WIP im Ost-Londoner Hackney aufgebrochen und ausgeraubt wurde, bedruckte die Firma kurzerhand Pullover mit Fotos der geplünderten Ladenfront – ein Bestseller.

Heute gibt es neben Kleidung, Taschen und anderen Accessoires zusätzlich in jeder Kollektion mehrere Teile, die man vielleicht am besten als Souvenirs beschreiben kann: Hundenäpfe, Räucherstäbchenhalter, Fußabtreter und unzählige Skateboard-Designs werden mit dem ikonischen Logo versehen, das an das Symbol der Goldenen Spirale aus der Kunstgeschichte erinnert, damit Kunden auch zu Hause ihre Zugehörigkeit in diesem Kult zeigen können.

Fans unter Prominenten: Kristen Stewart (rechts) mit Alicia Cargile, die eine Carhartt-Mütze trägt, am Flughafen in Los Angeles 2016
Fans unter Prominenten: Kristen Stewart (rechts) mit Alicia Cargile, die eine Carhartt-Mütze trägt, am Flughafen in Los Angeles 2016picture alliance / Captital Pictures

Künstliche Verknappung

Die große Verwechslungsgefahr der beiden Labels schafft ein interessantes Paradox: Einerseits bemüht sich WIP darum, als eigenständige Modemarke fernab der amerikanischen Namensgeberin wahrgenommen zu werden. Texte von Journalisten werden von den zuständigen PR-Mitarbeitern geprüft, damit die Unterscheidung der Labels ja eingehalten wird. Andererseits schafft die Assoziation mit dem traditionellen Hersteller von Arbeitsbekleidung auch eine Legitimierung, die der Modemarke ein Image von bodenständiger Qualitätsware verleiht.

Konkurrierende Marken mit ähnlichem Standing, wie Palace, Stussy und Supreme, täuschen Begrenztheit vor. Supreme verkauft zum Beispiel nur in einer Hand voll eigener Geschäfte und den Läden des Dover Street Markets, einem Wallfahrtsort für wohlbetuchte Exzentriker, betrieben von dem japanischen Kult-Label Comme des Garçons. Doch mit Dover-Street-Standorten in London, Tokio, Paris, Los Angeles, New York, Singapur und Beijing, den 16 eigenen Supreme-Geschäften auf der ganzen Welt und einem florierenden Online-Shop kann wirklich nicht mehr von Knappheit gesprochen werden. Carhartt WIP hingegen positioniert sich als erreichbare „coole“ Marke mit Dutzenden eigenen Geschäften auch in kleineren Städten, Hunderten Großhandelspartnern und sogar Shops in Outlet-Dörfern. „Als Streetwear-Marke hat WIP wahrscheinlich nicht das Ansehen von Supreme oder Stussy, da diese tatsächlich enger verwoben sind mit dieser bestimmten Kultur“, sagt Derek Guy. Die Originalmarke gibt es heute vor allem in Geschäften für Arbeitsbekleidung und Baumärkten zu kaufen.

Goldenes Labellogo: Sängerin Paloma Mami bei Billboard Women In Music 2019 in Los Angeles
Goldenes Labellogo: Sängerin Paloma Mami bei Billboard Women In Music 2019 in Los Angelespicture alliance

Gemeinsam stärker

Der Bezug zur Arbeiterkluft allein reicht nicht aus, um eine Marke begehrenswert zu machen, sonst wären Schanze, Kreuzberg und Nordend voll mit Hipstern, die Engelbert Strauss tragen. Um ihre Relevanz nicht nur zu wahren, sondern auch zu steigern, hilft es einer Marke, sich Partner zu suchen, die etwas komplett anderes machen. So lud WIP im vergangenen Herbst das japanische Label Sacai zu einer Kollaboration ein. Designerin Chitose Abe ist bekannt für ihre subtilen Griffe, mit denen sie Stilregeln auf den Kopf stellt: Sie kombiniert Gore-Tex mit plissierter Wolle, kreiert zarte Kleider aus schweren Männerstoffen. Nur wahre Liebhaber erkennen ihre Arbeit, auch wenn das Unternehmen als eines der wenigen gilt, das ohne Großinvestoren floriert. Doch für WIP ist sie eine perfekte Partnerin, denn es horchen die richtigen Leute auf und sehen die vermeintliche Skatermarke mit anderen Augen. Die Teile der gemeinsamen Kollektion sind für den normalen WIP-Kunden kaum bezahlbar, aber das ist auch nicht Sinn der Sache.

Vintage nicht zu toppen

Doch am Ende bleiben die Anfänge der Marke als treue Rüstung des Arbeiters bis heute ihr wichtigstes Kapital. Derek Guy, der seine über 620.000 Followern bei X über Modetrends, Kragenbreiten und Maßschneiderkunst aufklärt, glaubt, dass unter wahren Liebhabern kein Projekt und keine Kollaboration den wahren Wert von Carhartts Original-Teilen überschattet, die bis heute heiß umkämpft sind auf dem Second-Hand-Markt. „Der Hauptgrund dafür ist der eingetragene, leicht abgenutzte Zustand, den Kunden niemals mit ihren neuen Teilen so hinbekommen würden. Das Ideal vom hart arbeitenden Handwerker in seinen abgewetzten Klamotten macht die wahre Romantik von Carhartt aus“, sagt er. „Der typische Modekunde – ein ‚Schreibtisch-Krieger‘ wie ich – wird diese Patina und Waschungen niemals allein erreichen. Das ist viel mehr wert als die vermeintliche Qualität neuer Sachen.“