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Leben mit Alzheimer "Die eigene Realität passt nicht zu der Realität von außen"

Illustration eines Kopfes als Puzzle
© SewcreamStudio / Adobe Stock
Es beginnt mit lustigen Verwechslungen und Vergesslichkeiten. Dann: die Diagnose Alzheimer. Unsere Autorin hat es in ihrer Familie selbst miterlebt. Mit einer Alzheimer-Forscherin sprach sie nun über die Rolle Angehöriger und aktuelle Forschungsergebnisse.

Die Zahl der Alzheimer-Diagnosen ist in den letzten Jahren gestiegen. Ebenso die Todesfälle. Schätzungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zufolge werden bis zum Jahr 2050 2,4 bis 2,8 Millionen Menschen in Deutschland an Alzheimer erkranken. Das sind bis zu einer Million Betroffene mehr, als es 2022 waren. 

Alzheimer ist die häufigste Form von Demenz, die leider viele Familien kennen. In meinem Fall war es mein Opa, der mich zunehmend mit dem Namen meiner Mutter oder meines Bruders ansprach. Der vergessen hatte, dass wir verabredet waren, der sich öfter mal verlief. Normale Alterserscheinungen, dachte ich. Oder erste Anzeichen von Alzheimer?

Es ist wie eine neue Welt für die Betroffenen

"Natürlich sind im Alter Veränderungen des Gedächtnisses normal, jeder vergisst mal ein Wort, einen Termin oder wo er Dinge hingelegt hat. Nur ist es dann so, dass einem auch wieder einfällt", erklärt Dr. Anne Pfitzer-Bilsing, tätig bei der Alzheimer Forschung Initiative e.V., dem größten privaten Förderer der Alzheimerforschung in Deutschland. 

Bei der Krankheit sei der entscheidende Unterschied, dass Betroffene den Alltag oft nur noch mit Merkzetteln organisieren können und ganze Sinnzusammenhänge verloren gehen. "Dann wird der Schlüssel vielleicht wiedergefunden, aber es ist den Betroffenen gar nicht mehr klar, wofür dieser überhaupt verwendet werden soll. Ganz alltägliche Routinen fallen plötzlich nicht mehr leicht", sagt sie. So würden auch Regeln des Lieblingsbrettspiels entfallen und, schlimmer noch, der Herd nicht ausgeschaltet werden. "Es ist wie eine neue Welt für die Betroffenen. Was auch dazu führt, dass sich die Betroffenen vermehrt aus dem sozialen Leben zurückziehen und sich nicht mehr aktiv an Gesprächen beteiligen, oft aus Scham oder Unsicherheit", beschreibt es die Forscherin.

Alzheimer-Forscherin Dr. Anne Pfitzer-Bilsing
Alzheimer-Forscherin Dr. Anne Pfitzer-Bilsing
© Sabrina Weniger

Mit der Zeit trafen tatsächlich all diese Symptome auf meinen Opa zu. Während wir zuerst noch dachten, 'ach, das ist nur die typische Vergesslichkeit im Alter', stellte sich mit der Zeit die Frage, ob seinem Verhalten nicht doch eine Erkrankung des Gehirns zugrunde lag. Heute frage ich mich: Hätten wir früher mit ihm zu seinem Neurologen gehen sollen? 

Es ist wichtig, früh zu reagieren, um weitere Schäden zu vermeiden

Dr. Anne Pfitzer-Bilsing rät zu einem Arztbesuch, sobald sich Betroffene oder Angehörige Sorgen machen. Eine frühe Untersuchung sei vor allem für eine differenzierte Diagnose wichtig, weil es auch ganz andere Ursachen für die Anzeichen geben könne: "Eine Depression kann die Alzheimersymptome beinhalten, der Altershirndruck oder Vitaminmangel-Erkrankungen." Alles behandelbar, erklärt die Expertin, "es ist aber eben wichtig, früh zu reagieren, um weitere Schäden zu vermeiden."

Der Arzt verschrieb meinem Opa Medikamente, eine Zeitlang wurde es wieder besser. Eine große Veränderung bemerkten wir aber nicht. Vielmehr war es tagesformabhängig, wie viel er mitbekam. Sich an Gesprächen beteiligte und sich daran erinnerte, was er gestern zum Mittag gegessen hatte. Kann man da aus ärztlicher Sicht nicht mehr machen? Wieso ist Alzheimer noch immer unheilbar? 

"In den letzten Jahren sind viele Wirkstoffstudien gescheitert, einige Pharmaunternehmen haben sich komplett aus der Alzheimerforschung zurückgezogen", berichtet Dr. Anne Pfitzer-Bilsing. Dennoch hätte es in jüngster Zeit leichte Erfolge gegeben: eine neue Generation von Wirkstoffen in Form von Antikörpern. "In den USA sind bereits zwei davon zugelassen, die wirklich eine der möglichen Ursachen als Ziel haben, und zwar die Amyloidablagerungen. Wichtig zu wissen ist aber, dass auch diese Antikörper Alzheimer nicht heilen können, sondern nur den Krankheitsverlauf verlangsamen. Und dass die Antikörper auch nur für eine sehr kleine Gruppe an Betroffenen infrage kommen, weil sie nur im sehr frühen Stadium der Alzheimer Krankheit überhaupt angewendet werden können. In späteren Stadien sieht man keinen Erfolg mehr", so die Forscherin.

In Europa gebe es noch gar keine Zulassung dieser Arznei, die Europäische Arzneimittelbehörde prüfe immer noch den Zulassungsantrag. Um Alzheimer zu heilen, ist sich die Expertin sicher, brauche es eine Kombinationstherapie. Bis dahin werde es aber wohl noch mindestens zehn Jahre dauern. Eine lange Zeit, aber immerhin eine mit Hoffnung. 

Was können wir heute schon tun?

Bis dahin nur abzuwarten, ist für Betroffene und Angehörige keine Option. Im Verlauf der Erkrankung meines Großvaters kam es zunehmend vor, dass er sich nicht mehr an aktuelle Geschehnisse erinnerte. Dafür kamen plötzlich Urlaube oder Geschichten aus seinem Berufsleben auf. Das sei typisch, wie mir die Alzheimer-Expertin erklärte: "Es gibt Ablagerungen von Proteinen im Gehirn, die dafür verantwortlich sind, dass als erstes die Verbindungen zwischen den Nervenzellen absterben und dann die Nervenzellen selbst. Und bei Alzheimer-Betroffenen betrifft dies als erstes die Gehirnareale des Kurzzeitgedächtnisses. Die Informationen, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind, bleiben noch länger erhalten." 

Wir sprachen fortan viel über die Vergangenheit. Zum Geburtstag schenkte ich keinen Wein mehr, sondern Bücher und Fotos. Ich hätte gern noch mehr gemacht, doch es fiel mir zunehmend schwerer, denn die Kommunikation funktionierte mittlerweile kaum noch. 

Dennoch betont Dr. Anne Pfitzer-Bilsing, wie wichtig es sei, da zu sein. Und, dass Angehörige (und Betroffene) durchaus etwas tun können: "Das Wichtigste ist, die geistigen Fähigkeiten zu trainieren. Angehörige können mit Betroffenen zusammen das Gedächtnis trainieren, indem sie Wortspiele machen, puzzeln, Bilder ergänzen oder Zahlenreihen vervollständigen." Was auch gut sei: Biografiearbeit. Sich zusammen alte Fotos anschauen und den oder die Betroffene erzählen und sich erinnern lassen, was in der Situation passierte. Und solange es körperlich gehe, kleine Spaziergänge machen. "Alle diese Punkte vereinen noch etwas Wichtiges: die soziale Komponente. Man sollte sich mit den Betroffenen immer weiter beschäftigen und sie nicht vereinsamen lassen, das wäre ein Treiber der Krankheit. Angehörige können dafür die Betroffenen auch gut so viel wie möglich an ihrem normalen Alltag teilhaben lassen."

Und wenn diese das nicht wollen?

Hilfe anzunehmen, ist allerdings nicht für jede:n einfach. Plötzlich kann man das nicht mehr allein, was die letzten fünfzig Jahre problemlos ging – mir graut es auch schon davor, wenn ich ehrlich bin. Mein Opa blieb mir gegenüber zum Glück immer freundlich. Fast ein wenig kindlich in seinem hohen Alter. Dafür konnte er mit anderen umso besser diskutieren, oder vielmehr "Nein" sagen und auf stur schalten. Nicht selten, wie sein Neurologe versicherte. 

Und auch Dr. Anne Pfitzer-Bilsing stimmt zu: "Man kennt es von Alzheimer-Betroffenen, dass manchmal auch Wut entsteht." Verständnis helfe, die Situation zu bewältigen. "Es ist ganz wichtig, dass das Umfeld versteht, in welcher Situation sich der oder die Betroffene in dem Moment befindet. Im Grunde ist es eine neue Realität, die sich da einstellt. Man kann sich das so vorstellen, wie wenn man im Bahnhof seinen Koffer in einen Spind einschließt, dann rausgeht und sich die Stadt anschaut, nachmittags wiederkommt und dann ist nicht nur der Koffer weg, sondern diese Spinde existieren auch nicht. Das ist der Alltag der Betroffenen. Es entstehen ganz große Unsicherheiten, weil die eigene Realität einfach nicht zu der Realität von außen passt." 

Statt den Betroffenen zu korrigieren oder genervt zu reagieren, können Angehörige sich auf die eigene Welt der Betroffenen einlassen. Auch eine einfache Sprache, simple Ja-Nein-Fragen und viel Zeit helfen bei der Verständigung.

Gute und schlechte Erinnerungen auseinanderhalten

Durch das Verhalten meines Opas, aber auch durch körperliche Veränderungen, kamen im Laufe der Zeit immer mehr Momente, die ich heute als unangenehm erinnere. Als ich mit Dr. Anne Pfitzer-Bilsing sprach, hatte ich oft sein Gesicht vor Augen. Schöne, aber auch schlimme Bilder. Die Expertin hat Tipp für mich: "Im Grunde geht es darum, dass man emotional verbunden bleibt. Denjenigen immer noch als den Menschen zu sehen, der er vorher war. Dabei helfen oft Erinnerungen, zum Beispiel wie man gemeinsam Fotos angeschaut oder alte Lieder gehört hat." 

So setzte ich mich nach diesem Gespräch mit den Klängen der "Vogelhochzeit" hin. Und schaute mir alte Bilder an. Schwelgte in schönen Erinnerungen. 

Hast du dich schon mal gefragt, wie Alzheimer aus Betroffenen-Perspektive aussieht? Die Fotoausstellung "Fading Memories" der Alzheimer Forschung Initiative e.V. ist ein Projekt, das sich dieser Frage gewidmet hat. Mit Kunstwerken, die verblassen wie Erinnerungen, soll die Krankheit auf künstlerische Weise greifbarer werden. Hier gibt es spannende Einblicke: 

Brigitte

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