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Begegnung mit Gott auf dem Jakobsweg

Thilo Wagner hat alles verloren. Als Pilger auf dem Jakobsweg sucht er nach einem Neuanfang – und findet Gott.

Von Thilo Wagner

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Es ist der 25. März 2017. Ich warte vor einem Hotel in Brüssel auf mein Taxi. In meinen Kopfhörern läuft zum x-ten Mal der Song „Keep Your Eyes On Me“, der Titelsong aus dem Film „Die Hütte“ – in der Hoffnung, dass da irgendjemand ist, der auf mich aufpasst. Mir laufen Tränen über die Wangen. Doch das ist mir in diesem Moment völlig egal. Ich habe alles verloren: meine Firma, meine Gesundheit, zeitweise meine Familie und zum Schluss mein Haus. Ebenso Freunde und meine Gemeinde – von dem Gefühl, irgendwann einmal wieder glücklich durchs Leben zu gehen, ganz zu schweigen. Zum Glück trage ich meine Sonnenbrille. So sind die Tränen und rot unterlaufenen Augen nicht zu erkennen. Immer und immer wieder erfasst mich das Gefühl, nichts mehr im Griff zu haben. Ich will einfach nur abhauen.

Trübe Gedanken fahren Karussell.

Im Flieger über Frankreich schaue ich aus dem Fenster und starre auf die Berge des Zentralmassivs. Dabei habe ich nur einen Wunsch: Warum kann das Flugzeug nicht einfach abstürzen und mich mit all dem Schmerz begraben? Das Gefühl lässt mich nicht los, die verzweifeltste, traurigste und hilfloseste Person auf diesem Planeten zu sein.

Einige Stunden später sitze ich im Bus von Bayonne nach Saint-Jean-Pied-de-Port – dem Startpunkt des Camino Francés, des Spanischen Jakobswegs. Ein seltsames Gefühl überkommt mich – ab jetzt bin ich nur noch auf das angewiesen, was ich in meinem Rucksack trage. Aber gleichzeitig spüre ich einen riesigen Drang, den Weg jetzt anzugehen und die erste Etappe zu meistern. Ich habe auf meinem Weg gleich mehrere Steine dabei: Da ist zum einen ein winziger Ziegelstein, der meinen Dienst für Gott symbolisiert. Außerdem ein schwarzer Stein, der für alles Negative aus den letzten Jahren steht. All das, was mich bedrückt und mir die Lebensfreude nimmt.

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Fast drei Wochen später sitze ich abends im Gemeinschaftsraum einer Herberge, schreibe mein Tagebuch und versuche mich auf das vorzubereiten, was mich am nächsten Tag erwarten wird. In dieser Nacht kann ich einfach nicht zur Ruhe kommen. Zu aufgewühlt bin ich. Ich schaue immer wieder auf die Uhr, nur um festzustellen, dass die Nacht nicht zu Ende gehen will. So stehe ich irgendwann auf und versuche, so leise wie möglich den Schlafraum zu verlassen. Nachdem ich Schuhe und Jacke angezogen habe, setze ich meinen Rucksack auf, schnappe meinen Pilgerstab und trete hinaus in die stockdunkle Nacht. Es ist noch sehr früh am Morgen und bitterkalt. Ich spreche ein kurzes Gebet und mache mich schweren Schrittes auf. Mir fällt es unendlich schwer, diesen Weg zu gehen. So stolpere ich förmlich den Berg hinauf und erreiche nach nicht einmal einer Stunde den Bergkamm. Am Horizont ist zu erkennen, dass die Dämmerung bald anbrechen wird, doch im Moment herrscht in mir dieselbe Dunkelheit wie vor meinen Augen. Wieder habe ich meine Kopfhörer auf und höre die Songs, die mich schon seit Wochen begleiten. Doch jetzt kommt noch ein neuer Song dazu, „Take Me Back“. Ich versuche, beim Gehen den Song mitzusingen, was mir aber nicht lange gelingt. Denn als ich den Text wirklich realisiere, kann ich nur noch weinen.

Altes unter Schmerzen loslassen

Da taucht auf einmal vor mir der Hügel mit den vielen Steinen der Pilger auf, aus dem das große Kreuz herausragt. Ich singe immer noch das Lied mit und spüre, wie dieses Kreuz mich immer näher zu sich zieht. Es ist, als würde Jesus mir zurufen: „Komm, lieber Thilo, und bring mir das, was du mir bringen möchtest. Ich bin bereit, mich dir zu zeigen und dir alles abzunehmen, was dich belastet.“ Diese Gedanken kann ich in meinem Kopf fast hören. Sie bewirken in mir eine unendliche Zuversicht, jetzt alles auf eine Karte zu setzen. Ich bin bereit. Bereit, alles hier liegenzulassen, bei all den anderen Dingen, die die Pilger vor mir schon hier abgelegt haben. So steige ich den Steinberg hinauf und hole die Steine aus meiner Jackentasche. Da ist der schwarze Stein, den ich am Fuß des Kreuzes platziere. Ich bin so dankbar, dass ich ihn nun los bin. Und dann kommt der kleine Ziegelstein hinzu, der meine Berufung und meinen bisherigen Dienst in der Kirche symbolisieren soll. Diesen abzulegen, fällt mir ehrlich gesagt am schwersten. Denn damit ziehe ich einen Schlussstrich unter mein Engagement, das mich die letzten 30 Jahre ausgemacht hat. Bin ich wirklich bereit dafür?

Der Stein symbolisiert für mich alles, was Gott mir bis heute anvertraut hat. Doch ich bin bereit, alles aufzugeben und etwas Neues zu empfangen. Ich will genau das erleben, was ich immer noch über die Kopfhörer höre. Es geht um eine persönliche Beziehung. Das weiß ich ja. Aber ich habe sie schon viele Jahre in dieser Form nicht mehr erlebt. Ich lege den Stein ab und im selben Moment bricht es aus mir heraus. Ich schluchze und weine, drehe dem Kreuz den Rücken zu und setze mich abseits unter das Vordach einer kleinen Hütte. Dort versuche ich, wieder die Fassung zu gewinnen. Ich fühle mich auf der einen Seite so leer, denn es ist einfach nichts mehr da, nachdem ich die Steine abgelegt habe. Auf der anderen Seite gibt es noch nichts, auf das ich in Zukunft bauen kann. Dieses Bewusstsein liegt wie eine schwere Last auf meiner Seele.

So wird der Text des Liedes zu meinem Gebet. Bring mich zurück an unsere erste Begegnung. Ich möchte dich, Jesus, erleben, von Angesicht zu Angesicht. Und ich fange an, ihm zu sagen, was ich fühle und was ich brauche. Ich habe meinen Schritt auf ihn zugemacht. Jetzt muss ich warten, was er dazu zu sagen hat. So werde ich still, ich kann auch nichts mehr sagen. Ich setze mich auf, schaue in Richtung Kreuz und kann sehen, wie hinter dem Kreuz die Sonne aufgeht. Es ist ein wunderbares Bild. So spreche ich einfach laut aus, was mir auf dem Herzen liegt. Ich möchte, dass auch über meinem Leben wieder die Sonne aufgeht.

Es geht Gott um die Beziehung zu mir und nicht um Leistung oder andere Dinge.

Thilo Wagner
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Die Zukunft ist weiß

In diesem Moment greife ich wieder in die Tasche und realisiere, dass da noch ein Gegenstand ist. Ich erschrecke und ziehe ihn heraus. Es ist der weiße Stein. Der Stein, den Gott mir schon vor Tagen auf einem kleinen Hügel gab. In diesem Moment erlebe ich einen innerlichen Zuspruch, wie ich ihn noch nie gespürt habe. Auf einen Schlag habe ich die Gewissheit, dass Gott nichts von dem interessiert, was da drüben am Kreuz liegt. Ihn interessiert nur die Beziehung zu mir. „Tu y yo“, nennt es Hape Kerkeling in seinem Buch „Ich bin dann mal weg“. „Tu y yo“, das ist spanisch und heißt „Ich und du“. Es geht Gott um die Beziehung zu mir und nicht um Leistung oder andere Dinge. Ich habe nichts zu geben, nichts zu bringen und meine Zukunft ist wie ein weißes Blatt Papier.

So schiebe ich den weißen Stein in meine Tasche und mache mich der Sonne entgegen auf das Kreuz zu. So langsam wird es immer heller und Freude breitet sich in mir aus. Ich kann nicht erklären, was hier passiert ist. Aber mit jedem Schritt wird mein Leben leichter und mein Herz fröhlicher. Ich tanze schon fast über die Hügel und freue mich so sehr, ohne diesen alten Ballast weiterzugehen. Ich realisiere, dass dies wohl der entscheidende Moment auf meinem Camino war. Etwas Neues wird in meinem Leben beginnen. Wenn ich auch noch nicht weiß, wie sich das alles darstellen wird. Aber der Morgen und das Kreuz waren der Start in eine neue Zukunft. Die Begegnung am Cruz de Ferro wird mein Leben für immer verändern. „Forever Yours“, für immer dein, werde ich mir später eintätowieren lassen. Ein Symbol, das mich für immer an diesen Tag am Kreuz erinnern wird.

Thilo Wagner lebt und arbeitet im SOS-Kinderdorf Württemberg.


MOVO-Cover
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Dieser Artikel ist in der Zeitschrift MOVO erschienen. MOVO ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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1 Kommentar

  1. Beim Pilgern ist immer der Weg das Ziel

    „Es geht Gott um die Beziehung zu mir und nicht um Leistung oder andere Dinge“! (Thilo Wagner). Aber was er im allerersten Satz hier sagt, ist sehr zielgerecht. Bei Gott geht es um Beziehung, nicht Leistung und nicht der Starke ist immer im Recht, sondern derjenige der zu wenig besitzt. Jesus liebte die Verlierer, die am Rande, Zöllner und Sünder, oder den Demütigen im Tempel, hinter der dicksten Säule versteckt. Dazu dienen Pilgerwege in aller Welt, sogar in anderen Religionen, nämlich sich auf den Weg zu machen und der Weg auch zum Ziel werden zu lassen. Manche brauchen da keinen Pilgerweg im Ausland, sie müssen nicht hunderte km laufen. Manchmal geht das in der Stille des Waldes. Oder in einer bemühten Stille, die ich suche. Vielleicht ist dies in erster Linie erstrebenswert: Ganz leer zu werden und dann mit dem Geist der Liebe und der Zuversicht von Gott gefüllt zu werden. Beim Pilgern ist immer der Weg das Ziel, nämlich dort auf dem Weg – wie die Emmausjünger ganz unbeabsichtigt – auf Gott zu stoßen.

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