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Hamburg Billstraße in Hamburg

Ein Jahr nach dem großen Brand – Händler sehen Zukunft in einer großen Basarfläche

Redakteur WELT/WELT AM SONNTAG Hamburg
Ein Jahr nach dem Großbrand in der Billstraße in Hamburg-Rothenburgsort stehen die Geschäftsleute im Fokus der Behörden. Ein Jahr nach dem Großbrand in der Billstraße in Hamburg-Rothenburgsort stehen die Geschäftsleute im Fokus der Behörden.
Ein Jahr nach dem Großbrand in der Billstraße in Hamburg-Rothenburgsort stehen die Geschäftsleute im Fokus der Behörden
Quelle: Bertold Fabricius
Ein Jahr nach dem großen Brand in der Billstraße macht die Stadt Druck. Die Straße soll wieder eine reine Industriestraße werden. Die betroffenen Händler organisieren sich und verhandeln über ihre Zukunft: Sie können sich eine Ausgleichsfläche in Form eines großen Basares vorstellen.

Es gibt gute und weniger gute Geschäftslagen. Kazem Sahranavard hat eine schlechte erwischt. „Furchtbar“, sagt er. Der 61-Jährige ist noch nicht lange hier. „Neueröffnung“ verheißt eine schmale Leuchtreklame vor seiner großen Halle. Doch das blinkende Schild sieht nur, wer seinen Blick zufällig in den Innenhof der Industriebrache entlang der Billstraße wirft.

Um Kunden anzulocken, hat ihnen der 61-Jährige ein Spielzeugauto in den Weg gestellt. Made in China, wie vieles hier in Sahranavards Reich, das unter „M.N.S. Restposten Import – Export UG“ firmiert. Mehr als 100.000 Artikel biete er, sagt er inmitten schier endloser Wühltische, ein Sortiment, das manch angeschlagenem Kaufhauskonzern gut zu Gesicht stehen würde. Kettensägen stehen neben Socken, Tassen, Schuhen, Kontaktgrills, Hundebetten und einer Geige mit einem kaputten Steg. Sahranavard verschwindet kurz im Gewirr der Regalwände, zaubert eine zweite hervor. An der aber fehlen Saiten. Egal, sagt er. Viel wichtiger seien die Kunden, die fehlten dringender. Und Schuld habe das Feuer.

Auf einer Fläche von drei Fußballfeldern brannte es vor fast genau einem Jahr in der Billstraße. Es war ein Flammeninferno zum Ostersonntag, überwölbt von einer schwarzen Rauchwolke, die sich über die Stadt erhob. Sieben Tage benötigte die Feuerwehr, bis das letzte Glutnest gelöscht war. Weil das Wasser aus den Hydranten nicht reichte, wurde die nahe Bille angezapft.

Es war ein Feuer, das Spuren in die Straße fraß, Werte vernichtete. Und das das Viertel langfristig verändern wird. Denn es legte den Finger in eine Wunde aus Unbekümmertheit und Behördenversagen. Über Jahre waren Zustände in der Straße geduldet worden, wie sie nicht hätten sein dürfen. Danach war alles anders. Eine Taskforce wurde aufgestellt, es gab Kontrollen, Dutzende Läden und Geschäfte wurden bereits geschlossen, Bezirk und Behörden lassen kaum einen Stein auf dem anderen.

Bei fünf Schwerpunkteinsätzen wurden bislang 72 Betriebe kontrolliert
Bei fünf Schwerpunkteinsätzen wurden bislang 72 Betriebe kontrolliert
Quelle: picture alliance / ABB

Die Billstraße in ihrer heutigen Form wird es in ein paar Jahren nicht mehr geben, das ist der politische Wille. Doch Widerstand formiert sich: Gewerbetreibende wie Sahranavard fühlen sich in einen Topf mit all jenen geworfen, die das negative Bild der Straße bestimmen. Es geht dabei nicht nur um die Frage, was erlaubt ist und was nicht. Sondern auch darum, wie die Stadt mit einem gewachsenen Ort umgeht, der längst Lebensmittelpunkt für Gewerbetreibende aus aller Herren Länder ist – behutsam oder mit der Planierraupe?

Kunden kommen aus ganz Europa

Kazem Sahranavard ist Iraner und seit 2007 hier. Ursprünglich lag sein Geschäft neben den später ausgebrannten Hallen. A-Lage. Eine Woche war die Straße nach dem Feuer gesperrt, erzählt er, dann durften sie zurück. „Man konnte kaum atmen, überall Qualm.“ Verbrannt war nichts, der Schock dennoch groß: Seine Waren schwammen im Löschwasser. „Drei Lastwagenladungen haben wir weggeschmissen“, sagt er. Mit dem Rest zog er in jene Halle, die mal sein Lager war. Dort bietet er seine Waren palettenweise an, willkürlich zusammengepackt. Riesige Wundertüten für je 300 Euro. Seine Kunden kommen aus ganz Europa. Frankreich, Österreich, Skandinavien, sagt er.

Die Billstraße ist eine von mehreren Längsachsen im Gewerbegebiet Billbrook/Rothenburgsort, nach dem Hafen das größte Industriegebiet Norddeutschlands – und in weiten Teilen eine Parallelwelt. Die Straße beginnt im Osten wie eine klassische deutsche Gewerbestraße und zerfasert in Richtung Westen: Import-Export-Geschäfte, Teppichhändler, Autohändler, Lebensmittelläden, Basare, Werkstätten, heruntergekommene Gewerbehöfe, auf denen das Material aus Haushaltsauflösungen sortiert wird, bestimmen das zunehmend kleinteilige Straßenbild.

Einen „heterogenen Handelsmarkt“, nennt der Senat das, was an der Billstraße passiert. Einen Markt, „der im Vergleich zu anderen Flächen des Einzel- und Großhandels einen eher unstrukturierten Eindruck vermittelt“. Böse Zungen bezeichnen die Billstraße als Schrottplatz Hamburgs. Denn vor allem ein „Wirtschaftszweig“ bestimmt neben Schrottverwertern das Bild: sogenannte „weiße Fracht“ – alte Kühlschränke und Waschmaschinen. Die Straße ist als Ausgangspunkt für jene Container voller Wohlstandsreste bekannt, die über den Hamburger Hafen nach Afrika gehen. Hier werden sie gepackt. Und dass sich einige Händler nicht an die gängigen Sicherheitsvorschriften hielten, war angesichts aufgetürmter Kühlschrankberge, zugestellter Wege und vermüllter Hinterhöfe auch vor dem großen Brand jedem Laien klar.

Sechs Großbrände gab es hier seit 2014. Doch keiner war so groß, wie jenes Feuer am 9. April 2023, ausgelöst durch ein brennendes Auto. Was dort brannte, hätte dort nicht gelagert werden dürfen oder nicht in den Mengen oder nicht so, dass es die Feuerwehr so schwer hatte, weil die Flammen schnell überspringen konnten. Jan Ole Unger, Brandamtsrat, und vor einem Jahr noch Pressesprecher der Berufsfeuerwehr, hält den Brand flächenmäßig für den größten seit dem Feuersturm 1943.

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17.000 Quadratmeter brannten zeitgleich. „Es war laut, heiß, schmutzig“, sagt er, „beeindruckend.“ Denn: „Wir standen vor einer riesigen Feuerwand, so etwas sieht man auch als Feuerwehrmann nur selten.“ Die Feuerwehr pumpte Unmengen Wasser in das Feuer. Ein Abrissbagger riss Schneisen in das Inferno. „Das waren extrem schwierige Löscharbeiten, da wir nicht genau wussten, was dort gelagert war und welche Gefahren auf die Einsatzkräfte lauerten.“

Großbrand in der Hamburger Billstraße
Am 09.04.2023 brannten in der Billstraße mehrere Industriehallen auf einer Fläche von drei Fußballfeldern
Quelle: picture alliance/dpa/Jonas Walzberg

Ein Jahr später sind von den großen Hallen nur noch die Fundamente übrig. Der Bezirk hat die Grundstückseigentümer verpflichtet, die Hallenreste zurückzubauen und zu entsorgen. Und je mehr Schutt verschwindet, desto mehr kommt in der Straße ans Tageslicht – insbesondere wegen der Kontrollen jener Taskforce, die 19 Tage nach dem Brand vom Bezirk Hamburg-Mitte aufgestellt wurde, alle Behörden sind mit an Bord. Fünf Schwerpunkteinsätze mit jeweils mehr als Hundert Beteiligten gab es bereits, den letzten im Februar. 72 Betriebe wurden bisher kontrolliert.

Chef der Taskforce ist Joscha Heinrich. Der 30-Jährige leitete zuvor den bezirklichen Kontrolldienst im Bezirk Hamburg-Mitte. „Beim ersten Einsatz sind wir völlig unvermittelt in eine illegale Wohnunterkunft hineingelaufen“, sagt Heinrich. „Drei osteuropäische Arbeiter saßen mit Kippe auf dem Bett. Und vor den Fenstern stapelten sich Reifen.“ 17 illegale Wohnunterkünfte haben sie seitdem dicht gemacht.

Immer wieder stoße sein Team auf Kuriositäten: Etwa den Moscheeraum über der Autowerkstatt oder einen Taubenschlag – die Vögel sollen bei Hochzeiten fliegen gelassen worden sein. „Keiner meint das hier böse, aber kaum einer weiß es besser“, sagt Heinrich, „und wenn der das macht, dann mache ich das auch.“ Das sei ein wenig das Prinzip Billstraße, „reine Unwissenheit“. Und sicher auch fehlende Kontrollen in der Vergangenheit. Aber das sagt Heinrich nicht. Der nächste Schwerpunkteinsatz steht bald an. Wann, ist geheim.

Fünf Imbisse wurden geschlossen

Die letzte Kontrolle traf Gaststätten und Imbisse. Fünf wurden geschlossen, auch der von Rashid Sediqzada. „Hausgemacht“ steht auf dem Gastroanhänger, der vor ein paar Monaten noch direkt an der Straße stand, mittlerweile aber auf einem Hinterhof wartet. 10.000 Euro habe er in den Imbiss investiert, sagt der 29-Jährige, der die Laufkundschaft mehr als ein Jahr verköstigte. Der Anhänger hat zwar keine Zulassung, dafür war Sediqzadas Angebot umso umfangreicher: Chapli Kebab, Tikka Kebap, Sultan Kebap. „Plötzlich haben sie gesagt, ich benötige eine Baugenehmigung“, sagt der 29-Jährige, er wisse nicht weiter. „Ich muss doch Miete zahlen, habe laufende Kosten.“

Ein Jahr nach dem Großbrand in der Billstraße in Hamburg-Rothenburgsort stehen die Geschäftsleute im Fokus der Behörden. Rashid Sediqzada und Hussain Sediqzada vor ihrem stillgelegten Imbisswagen
Rashid Sediqzada und sein Bruder Hussain Sediqzada vor ihrem stillgelegten Imbisswagen
Quelle: Bertold Fabricius

Die einen verzweifeln, bei anderen herrscht Aufbruchstimmung. „Es geht in die richtige Richtung“, sagt Bernhard Jurasch, Chef des Vereins Billbrookkreis, einem Zusammenschluss regionaler Unternehmer. Viel sei im Gange, das sei positiv – auch wenn es wohl den „Stups“ des Großbrandes benötigt habe. „In den vergangenen 20 Jahren waren die Zustände ja nicht anders“, sagt der Personalunternehmer. Da sei einfach zu wenig passiert. Warum? Jurasch sieht eine „gewisse Gleichgültigkeit“, weil das Problem so groß war. Niemand habe den Mut gehabt, ein Großaufgebot aufzustellen, so wie die Taskforce jetzt. Jurasch hat ein klares Bild von der Zukunft der Billstraße. Händler wie Sahranavard gehören nicht dazu. „Das ist ausgewiesenes Industriegebiet und das muss seiner eigentlichen Bestimmung wieder zugeführt werden“, sagt er.

Damit trifft er die Einschätzung von Bezirksamtschef Ralf Neubauer. „Wir wollen, dass die Billstraße wieder ein klassisches Industriegebiet wird“, sagt der. „Das heißt, dass die Wirtschaftsbehörde dort Industriebetriebe ansiedeln kann.“ Warum lange nichts passiert ist, will er nicht kommentieren: Er sei jetzt seit zwei Jahren im Amt, schaue nach vorn. Schon 2019 wurde mit der Arbeit an einem Zielbild Billstraße 2023 begonnen, sagt er. Daran halte man fest. Allerdings gebe es Probleme: Zum einen die schwierigen Grundstückszuschnitte und zum anderen die aktuelle Belegung der Flächen.

Bezirksamt Hamburg Mitte Taskforce Billstrasse
Hamburg-Mitte Bezirksamtsleiter Ralf Neubauer (SPD, l.) und Joscha Heinrich, Leiter der Task-Force Billstrasse
Quelle: Bertold Fabricius
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„Das sind vielfach lange schmale Grundstücke“, sagt der 42-Jährige, die sich für Industrie nicht eigneten. Also spreche der Bezirk mit Eigentümern, ob nicht mehrere Flächen gemeinsam vermarktet werden könnten. Außerdem nehme die Stadt ein Vorkaufsrecht für sich in Anspruch, bei jenen Eigentümern, die sich nicht an die Regeln halten und verkaufen wollen. Denn: Oft genug werde eine illegale Nutzung untersagt, dann aber das Grundstück verkauft und die nächste illegale Nutzung beginne. Aktuell laufe das erste Vorverkaufsverfahren, sagt Neubauer, für zwei nebeneinanderliegende Grundstücke. 3800 Quadratmeter groß.

„Wollen keine Existenzen zerstören“

„Es gibt Geschäftsmodelle, die wir in dieser Stadt einfach nicht haben wollen“, sagt er. „Ich sag’ mal, die Kühlschrankmafia und dergleichen.“ Was Einzelhändler wie Sahranavard betreffe, setze der Bezirk auf Kooperationsbereitschaft. „Wir wollen keine Existenzen mutwillig zerstören. Aber in ein Industriegebiet gehören sie nicht.“ Wie also geht es für sie weiter? „Das sind größtenteils ordentliche Betriebe. Wir wollen mit Augenmaß rangehen“, sagt Neubauer. „Die sind nicht im Fokus.“

Die Händler selbst, die aktuell eine Interessengemeinschaft gründen, um sich besser vertreten zu können, könnten sich eine Ausgleichsfläche vorstellen. Ein Gelände, ähnlich dem niederländischen „De Bazar“ in der Nähe von Amsterdam. Dafür habe man bereits die Flächenwünsche der Händler abgefragt. Das Ergebnis aus der vergangenen Woche: 20.000 bis 25.000 Quadratmeter. „Ob das realistisch ist, muss man sehen“, sagt Neubauer. Das nächste Gespräch sei für Mai angesetzt. Es gehe weiter. Dennoch: Einen Freibrief oder eine Bestandsgarantie werde er den Händlern nicht ausstellen. Eine Lösung müsse von beiden Seiten kommen.

Händler Sahranavard wird mit seinen 61 Jahren ein neues Kapitel aufschlagen müssen: „Hier gibt es keine Zukunft“, sagt er. In ein bis zwei Jahren werden wohl alle Händler weg sein. „Deshalb suchen wir einen Ort, wo wir alle gemeinsam hingehen. Wenn wir einzeln irgendwo hingehen, sind wir verloren.“

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