Käsemarkt: Allein gegen die Milchlobby

Nr. 13 –

Der pensionierte Landwirt Maurus Gerber verklagt die Molkerei der Migros. Vordergründig geht es dabei um fehlende Zulagen. Doch tatsächlich steht die ganze Milchwirtschaft unter Anklage.

Maurus Gerber mit einem Kalb auf seinem früheren Hof in Sainte-Croix VD
«Niemand will sich mit der Milchindustrie anlegen», sagt Maurus Gerber auf seinem früheren Hof in Sainte-Croix VD – und tut es trotzdem.

Wer zu Maurus Gerber gelangen will, muss einen mühseligen Weg auf sich nehmen. Muss hinausfahren in den Waadtländer Jura, in vielen Kehren über aufgefaltetes Land auf den Balcon du Jura hinauf, bis in ein Städtchen namens Sainte-Croix. Es ist ein besonderer Ort, ein Mahnmal einer glorreichen industriellen Vergangenheit, als jeden Tag Busse aus dem französischen Pontarlier und Züge aus Yverdon ankamen, gefüllt mit Arbeiter:innen für die Fabriken der Stadt, für die Fertigung von Spieldosen, Schallplatten, Harfen oder Filmkameras. Ein Zentrum der Feinmechanik weitab der grossen Waren- und Menschenströme, das auf klingende Produkte setzte, die leider dem Fortschritt nicht standhielten.

Der Weg zu Maurus Gerber und seinem alten Hof führt aus dem Ortszentrum hinaus. Vom nahen Hügel steigen fünf Windräder auf, in den Fenstern der Häuser stecken noch Plakate in zornigem Rot: «Non aux éoliennes!» Sainte-Croix ist auch ein Ort, an dem der Kampf weitergeht, obwohl er längst vorbei ist.

«Maurus gegen Goliath», titelte unlängst die «Bauernzeitung», als sie über Gerber und seinen Kampf gegen das Schweizer Agrarsystem schrieb. Gerber, pensionierter Milchbauer, prozessiert gegen die mächtige Migros-Molkerei Elsa Group SA in Estavayer-le-Lac. Es ist eine juristische Auseinandersetzung, in der es vordergründig um die Abrechnungsart der sogenannten Verkäsungszulage und um angeblich entgangene Geldbeträge geht. Streitwert: knapp 1500 Franken. Aber im Grunde geht es in diesem Verfahren um viel mehr – um ein Leben voller Mühen, in dem stets andere von der eigenen Arbeit profitiert haben.

Zwischenhändler verteilen Zulagen

Eingerichtet wurde die Verkäsungszulage im Zuge der Käsemarktliberalisierung zwischen der Schweiz und der EU 2002. Fortan bezahlten die Käsereien den Milchbetrieben weniger für die Milch, um ihren Käse zu Marktpreisen exportieren zu können. Als Entschädigung erhalten die Landwirt:innen seither eine Zulage. Der Staat überweist diese den Käsereien, sie geben das Geld an die Landwirt:innen weiter. Gemäss Gesetz muss die Zulage auf der Milchabrechnung getrennt ausgewiesen sein. Doch tatsächlich ist die Zulage manchmal einfach Teil des Milchpreises. Der Grund: Grosse Konglomerate wie Elsa, die nebst Käse auch Joghurt und Frischmilch herstellen, halten nicht auseinander, wessen Milch sie für welches Produkt einsetzen. Sie überweisen die Zulage an einen Zwischenhändler, der sie wiederum gleichteilig an alle Landwirt:innen verteilt, die Milch geliefert haben.

Der Verdacht, den Maurus Gerber und die bäuerliche Basisorganisation Uniterre – deren Präsident Gerber ist – hegen: Ein Teil der Zulage bleibt bei den Molkereien hängen. Gestützt wird der Vorwurf von Studien, wonach von den 300 Millionen Franken Verkäsungszulagen jährlich bis zu 100 Millionen die Milchbäuer:innen gar nie erreichen.

Viel Geld, das möglicherweise am falschen Ort landet. Und das Gerber und Uniterre in einem «Schauprozess» («Bauernzeitung») nun einklagen wollen. «Wir stehen ganz alleine da», sagt Gerber, «niemand will sich mit der Milchindustrie anlegen.» Auch er selber traute sich erst, als er kurz vor der Pensionierung stand. «Sonst holt dir niemand mehr die Milch ab», sagt er. Gerber sitzt in der Stube seines alten Hofs, den er vor vier Jahren an eine junge Bauernfamilie verkauft hat. Mittlerweile wohnt der 68-Jährige mit seiner Frau am anderen Ende der Schweiz, in Scuol. Doch alle paar Monate kommt er zurück, um auszuhelfen. Jetzt gerade, um die Obstbäume zu schneiden.

Der Bauernhof liegt in einem engen Tal, das von einem Bach zerteilt wird. Schwieriges, zerklüftetes Terrain. Jeden Monat genug in der Kasse zu haben, ist auch mit den staatlichen Direktzahlungen nicht einfach. 31 Jahre lang bewirtschaftete Gerber den Hof. Zwei Drittel seines Umsatzes kamen vom Staat. «Damit haben sie dich im Würgegriff – ein Fehler, und sie streichen dir die Mittel», sagt er düster. Um Geld für teures Kraftfutter zu sparen, baute er selber Futtergetreide an. Eine Kreislaufwirtschaft, um das Budget zu schonen – mit kleinen Erträgen, aber auch tieferen Kosten.

Von Beginn weg setzte Gerber auf Biomilch, als einer der Ersten in der Waadt. Abnehmer dafür fand er keine, man bezahlte ihm denselben Preis wie für konventionelle Milch. Warum er trotzdem Bio machte? Gerber zuckt mit den Schultern: «Aus Überzeugung.»

Und jetzt kämpft er vor Gericht, obwohl es für ihn um nichts mehr geht. Eine entsprechende Beschwerde hatte das Bundesamt für Landwirtschaft abgewiesen. Es handle sich nicht um Verwaltungs-, sondern um Zivilrecht: ein privatwirtschaftliches Problem zwischen Milcherzeuger und Abnehmer. Also reichte er am Bezirksgericht Broye Klage gegen Elsa ein – und erhielt recht: Das erstinstanzliche Gericht urteilte, der Verarbeiter müsse die Zulage separat ausweisen. Das Freiburger Kantonsgericht als zweite Instanz indes wies die Klage ab: Es handle sich doch um Verwaltungsrecht.

«Jetzt beginnen wir wieder bei null», sagt Gerber. Deshalb sammelt er mit Uniterre Geld über ein Crowdfunding, für eine neuerliche Beschwerde beim Bundesamt für Landwirtschaft. Es fehlt noch eine Stange Geld bis zu den erhofften 25 000 Franken.

Unterstützung erhält er keine – weder von den Verbänden der Milchproduzent:innen noch vom allmächtigen Bauernverband. «Die kassieren alle unsere Pflichtbeträge, setzen sich aber nicht für uns ein», sagt Gerber.

Milchlobby verhindert Reformen

Zuoberst im komplizierten Schweizer Milchuniversum steht die Branchenorganisation Milch, kurz Bom. Darin sind die Milchproduzent:innen und -verarbeiter vertreten – eigentlich paritätisch, «aber die meisten Produzentenvertreter haben ihre Hände auch in der Verarbeitung drin», beklagt Gerber. Deshalb würden Verhandlungen über den Milchpreis nie auf Augenhöhe stattfinden. Und deshalb habe auch niemand ein Interesse, das unfaire System der Verkäsungszulagen zu ändern.

Die Interessenkonflikte sind schon auf den ersten Blick erkennbar. Bei Thomas Grüter etwa, der in der Bom die Interessen der Zentralschweizer Milchproduzenten (ZMP) einbringt – aber im Nebenamt auch noch Vizepräsident im Verwaltungsrat von Emmi ist. Oder beim Vertreter der Aaremilch, einer Organisation, der 2000 Landwirt:innen in Bern, Freiburg, Neuenburg und Luzern angeschlossen sind – und die seit zwei Jahren zur Hälfte der Migros gehört.

Portraitfoto des pensionierten Landwirts Maurus Gerber
Der pensionierte Landwirt Maurus Gerber.

Nachfrage bei Stefan Kohler, der als Geschäftsführer der Bom all die verschiedenen Interessen zusammenbringen muss. Haben die Verarbeiter eine Übermacht? Kohler sagt, er habe Verständnis für die Position von Maurus Gerber und seine Klage über das Machtgefälle. «Ich verstehe, dass er sich den fünf, sechs Grossmolkereien ausgeliefert fühlt.» Und doch würden Gerber und Uniterre mit ihrem Rechtsstreit nichts erreichen. «Hier kämpft nicht David gegen Goliath», sagt Kohler, «die haben sich da in etwas hineingesteigert, weil sie glauben, dass Geld versickert.» Aber auch wenn die Zulage auf der Milchrechnung anders dargestellt werde, würde nicht mehr Geld fliessen. «Es ist die falsche Diskussion.»

Doch um die Verkäsungszulage wird seit ihrer Einführung gerungen. Alle paar Jahre steht ein Reformversuch an. Zuletzt wollte der Bundesrat mit der Agrarpolitik 22+ die Direktauszahlung der Verkäsungszulage an die Landwirt:innen durchsetzen. Die Milchindustrie wehrte sich nach Kräften, und das nicht nur auf dem öffentlich sichtbaren Weg über die Vernehmlassung – gleich dreimal trafen sich Vertreter:innen der Milchbranche im Winter 2022 mit dem Bundesamt für Landwirtschaft, um die geplanten Änderungen umzustossen. Im Sitzungsprotokoll der Branchenorganisation Milch, das der WOZ vorliegt, wird etwa befürchtet, die neue Transparenz könnte zu einer neuen Klagewelle von Milchproduzent:innen führen, «weil die Produzenten die aus ihrer Sicht korrekte Verkäsungszulage nicht erhalten». Das Fazit der Milchlobby: «Die heutige Stabilität im Milchmarkt würde gefährdet und die wertschöpfungsstarke und exportorientierte Käsebranche geschwächt.» Denn im heutigen System verschwinden Preisunterschiede in den Mischrechnungen der Milchhändler und Grossmolkereien. Künftig hätten die Landwirt:innen mehr Kontrolle gehabt, zu welchen Preisen sie ihre Milch verkaufen.

Aus der Reform und damit aus den Direktauszahlungen der Verkäsungszulage wurde nichts. Weil sich auch die Bauernvertretungen nicht einig waren, hatten die Verarbeiter leichtes Spiel. Immerhin überwies das Parlament Anfang März einen Vorstoss des Waadtländer SVP-Nationalrats Jacques Nicolet, der von Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard unterstützt wurde. Künftig soll der Staat die Milchpreise der Käsereien kontrollieren und die Verkäsungszulage nur dann auszahlen, wenn die offiziellen Richtpreise eingehalten werden. Der Widerstand beim Käseverband Fromarte dagegen war wiederum immens. Doch unter dem Eindruck der laufenden Bauernproteste traute sich der Ständerat nicht, die Forderung abzutun. Der neue Plan der Käselobby lautet nun dem Vernehmen nach: die Preiskontrollen dann bekämpfen, wenn der Bundesrat eine Vorlage dazu ausgearbeitet hat – und sich die Proteste gelegt haben.

Kaum jemand versteht die politische Feinmechanik so gut wie die Lobbyist:innen der Agrarindustrie. Maurus Gerber und seine idealistische Uniterre-Gemeinschaft wirken davon weit, weit weg.

Mittagszeit in Sainte-Croix. Dick geschnittene, blubbernde Raclettescheiben zerfliessen über kräftigen kleinen Kartoffeln. Ein milder, eleganter Käse, gemacht aus der Milch der Kühe, die nebenan im Stall stehen. Gerbers früheres Geschäftsmodell gäbe heute kein Geld mehr her – seine Nachfolger:innen haben den Investitionskredit für die Hofübernahme nur erhalten, weil sie auf eigenen Käse und Direktvermarktung setzen. Das bedingt noch mehr Arbeit für knappes Geld.

Gerber sagt, er sei froh, pensioniert zu sein. Nicht nur die tiefen Preise, auch der Papierkrieg hätten ihm zu schaffen gemacht. All die Auflagen, die mit den Direktzahlungen einhergehen. «Es hat mich zermürbt», sagt er und macht sich dann auf den langen Heimweg nach Scuol, ins Zuhause für den Lebensabend – um dort an einer neuen Eingabe wegen der Verkäsungszulagen zu feilen. Für einen neuerlichen juristischen Kampf gegen die Bundesverwaltung und die Milchindustrie. Es klingt anstrengend und entbehrungsreich. Vielleicht kämpft da gar nicht Maurus gegen Goliath, sondern Don Quijote gegen Windmühlen? Maurus Gerber lässt sich nicht beirren: «Wir werden das System verändern.»