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Warum ein Gymnasium plötzlich nicht mehr „Otfried Preußler“ heißen soll

Pullach / Lesedauer: 8 min

Das Gymnasium in Pullach bei München will den Namen Otfried Preußler ablegen. Der Antrag liegt beim bayerischen Kultusministerium. Mit dem Neubrandenburger Preußler-Experten Carsten Gansel sprach Frank Wilhelm.
Veröffentlicht:13.04.2024, 20:25

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Seit wann sind Sie in die Debatte um die Umbenennung des Otfried-Preußler-Gymnasiums in Pullach einbezogen?

Von Einbezogen-Sein kann man in diesem Fall sicher nicht sprechen. Das Gymnasium hatte Anfang Dezember 2019 zwei sogenannte „Expertengespräche“ durchgeführt. Aufgrund eines umfangreichen Beitrages zu Otfried Preußlers Kindheit und Jugend, der bereits 2019 erschienen war, also lange vor meiner Biographie, erhielt ich im März 2020 eine Einladung und zugleich die Protokolle der Gespräche. Als ich die Einlassungen las, konnte ich gar nicht anders, als zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Intentionen nicht darauf abzielten, Biographien, „die die Widersprüche eines Jahrhunderts leben und aushalten mussten“, zu ergründen – so schrieb ich dann –, sondern es eher darum ging, Gründe für das Ablegen des Namens zu finden. Entsprechend teilte ich dem Direktor mit, ich hätte den Eindruck, dass es in Hinblick auf Otfried Preußler zu einer „‚Delegitimierung‛“ des Menschen, des Autors und des Werks“ komme. Daran könne ich mich nicht beteiligen. Danach habe ich nichts Offizielles mehr vom Gymnasium gehört.

Carsten Gansel 
Carsten Gansel  (Foto: Frank Wilhelm)

Anlass für die Diskussion ist Preußlers Erzählung „Erntelager Geyer“. Wie ist der Text aus Ihrer Sicht heute zu bewerten?

Otfried Preußler hat den Text als 17-Jähriger geschrieben, mithin als Adoleszenter. Betrachtet man das „Was“ und „Wie“ des Erzählens, wird man schwerlich sagen können, dass für den Text NS-Symbolik systemprägend ist, also die ideologische Färbung die Oberhand gewinnt. Sie ist im Vergleich mit sonstigen Zeugnissen aus dem Dritten Reich eher gering. Das ist übrigens auch mehrfach eingestanden worden. Ich habe wiederholt betont, dass im „Erntelager Geyer“ die Bezüge eher auf ein seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bekanntes Begriffsnetz verweisen, nämlich Turnvereine, Burschenschaften und die Jugendbewegung. Otfried Preußler hat selbst des Öfteren auf diese seine „Herkunft“ verwiesen. Jugend, Geselligkeit, Gemeinschaft, Fahrt, Lager, Naturverbundenheit, Trommel, Fahne, Kameradschaft, Führer oder Gefolgschaft, das sind Traditionslinien, die in jenen Jahren keineswegs nur im sogenannten Sudetenland für junge Leute orientierend wirkten. Dass die Nationalsozialisten hier propagandistisch anknüpften und diese Traditionen für ihre Vernichtungspolitik nutzten, ist bekannt.

Carsten Gansel: Kinder einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin: Galiani, 2022
Carsten Gansel: Kinder einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin: Galiani, 2022 (Foto: Galiani Verlag)

Wie würden Sie den Text in das Gesamtwerk Preußlers einordnen?

Es ist die Erzählung eines 17-Jährigen. Parallel dazu hat der junge Preußler Lyrik geschrieben, in der Gefangenschaft dann neben Gedichten auch Theaterstücke, die aufgeführt wurden. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft arbeitete er auch für das Radio und für Zeitungen. Und mit dem „Kleinen Wassermann“ hatte er 1956 seinen Durchbruch als Autor. Es ist dann ein Werk entstanden, das seinesgleichen sucht. Eine Gesamtauflage von 50 Millionen weltweit und Übersetzungen in über 50 Sprachen. Ganze Generationen in der alten Bundesrepublik sind mit Otfried Preußler groß geworden. Mit der „Kleinen Hexe“, die ihren eigenen Weg sucht und sich nicht gleichschalten lässt, mit dem „Räuber Hotzenplotz“, der sich mächtig düngende Autoritäten veralbert oder mit dem „Krabat“, in dem die „Auseinandersetzung mit der faszinierenden Macht, die sich bei näherem Zusehen als böse Macht entpuppt“ (Otfried Preußler), vorgeführt wird. Das beantwortet vielleicht Ihre Frage.

Diskutiert werden auch Preußlers Aktivitäten in den NS-Jugendorganisationen. Laut Wikipedia war Preußler Mitglied der Jungturnschaft, der Hitlerjugend und schließlich Oberjungenschaftsführer im Jungvolk. Inwieweit entspricht das einer seinerzeit „normalen“ Laufbahn im damaligen Sudetenland?

Ich glaube, wir sollten hier zunächst einmal abstecken, worüber wir reden. Wir reden über einen Jugendlichen, der Jahrgang 1923 war und im Oktober 1940 gerade einmal 17 Jahre alt wurde. In der Hitlerjugend waren Ende der 1930er-Jahre, soweit ich erinnere, um die 90 Prozent der Jungen organisiert. Das war im Sudetenland nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland nicht anders. Otfried Preußler war hochintelligent und zudem ausgesprochen sportlich, noch dazu ein Typ, der andere ob seines Humors begeistern konnte. Das waren Gründe, die ihn in dieser - die Jugend im Dritten Reich zusammenfassenden - Organisation voranbrachten. Aber wir reden hier immer noch von halben Kindern und von einer Jugendorganisation. Es handelt sich im Kontext mit Otfried Preußler keineswegs um das, was man mit Recht als „Nazi-Karrieren“ bezeichnen könnte, nämlich um Verantwortung in politischen und staatlichen Organisationen wie der NSDAP, den Schulen, den Gerichten oder dem Militär.

2010 ehrte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (rechts) Otfried Preußler mit Bayerischen Maximiliansorden.
2010 ehrte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (rechts) Otfried Preußler mit Bayerischen Maximiliansorden. (Foto: Peter Kneffel)

Wie hat Preußler selbst seine Jugendzeit im Dritten Reich reflektiert?

Als Hitler 1933 an die Macht kam, war Otfried Preußler zehn Jahre alt. Allerdings ist die besondere Situation im sogenannten Sudetenland zu beachten. In Folge der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Oktober 1918 sahen sich die Sudetendeutschen an den Rand gedrängt und in ihrer nationalen Identität bedroht. Das hatte Folgen insofern, als eine übergroße Mehrheit der Sudetendeutschen den Anschluss an Hitlerdeutschland, der historisch im September 1938 erfolgte, begrüßten. Otfried Preußler war damals noch keine 15 Jahre alt. Und er hat später mehrfach von diesen Prägungen durchaus selbstkritisch-reflexiv berichtet. Noch im Jahr 2000 hat er sich dazu in einem großen Zeitzeugen-Projekt geäußert und Zeugnis abgelegt. Ganz abgesehen davon, es ist das Werk, es sind die TEXTE, in denen er als Autor seine Auseinandersetzung führt, mit Drittem Reich, Krieg und Gefangenschaft. Das ging, glaube ich, oftmals bis über die Schmerzgrenze hinaus. Otfried Preußler steht gerade von daher auch mit den Brüchen des Lebens für das, was in der Gegenwart so ungemein wichtig und offensichtlich so schwer zu leben ist: Anstand, Toleranz, Zivilcourage und Mitmenschlichkeit! 

Der Antrag für die Umbenennung liegt jetzt beim bayerischen Kultusministerium. Wie würden Sie als Minister entscheiden?

Sagen wir mal so. Schulen und die entsprechenden Gremien entscheiden selbstständig. Allerdings hat das Gymnasium Pullach sich seit 2013 mit dem Namen des weltbekannten Autors schmücken wollen und können. Von den Gründen, die zehn Jahre später genannt wurden, um den Namen abzuwickeln, ist eigentlich nichts mehr übriggeblieben. Ja, noch problematischer, es mussten gar Unterlassungserklärungen wegen falscher Tatsachenbehauptungen unterzeichnet werden. Das vielstimmige und weitgehend eindeutige Plädoyer für den Autor scheint mir – egal wie die Entscheidung zu Pullach letztlich ausgeht – ein Beleg dafür zu sein, dass in dieser Gesellschaft die Maßstäbe gerade nicht abhandenkommen.

Aber noch mal zur Frage: Es ist eine Sache für sich, ob ein Namensgeber ein Vorbild im klassischen Sinne sein muss. Junge Leute heute nach Vorbildern gefragt, werden da ohnehin zurückhaltend reagieren. Viel wichtiger als der Aspekt des sogenannten Vorbilds erscheint mir eine Biographie, in der die namensgebende Person, mit Brüchen zurechtgekommen ist, sie ausgehalten hat und eine Lebensleistung erbracht hat. Für Otfried Preußler trifft dies zu. Es ist ein Werk entstanden, das in dieser Weise nur entstehen konnte, weil der Autor sich Zeit seines Lebens gerade auch mit der eigenen Biographie auseinandergesetzt hat und im besten Sinne aus den Störungen und Zerstörungen gelernt hat, ja, in der Lage war, eine literarische Form zu finden, die bis in die Gegenwart eine Leserschaft zur Selbstreflexion motiviert. Und dies mit Geschichten, in denen die Hauptfiguren eben ihren eigenen Weg suchen und nicht im Strom der Angepassten mitschwimmen. Was will man von einem Namensgeber mehr erwarten?!

Das Grundproblem scheint zu sein, dass das Tun eines Autors nicht in den historischen Kontext seines Lebens gestellt wird. Stimmen Sie dem zu?

In jedem Fall! Grundsätzlich sollte nicht nur unter Historikern gelten, Personen in die jeweiligen historischen Kontexte einzuordnen. Problematisch wird es dann, wenn mit moralischen Prinzipien der Gegenwart das Vergangene bewertet wird. Ausgenommen natürlich Verbrechen! Bernhard Schlink, dessen „Vorleser“ den Autor weltbekannt gemacht hat, sprach einmal von einer „Kultur des Denunziatorischen“, die sich zunehmend zeige. Das war 2011, da waren gegenwärtige Entwicklungen noch nicht absehbar. Und er meinte damit, dass moralisch (!) Gericht gehalten wird, „mit heutigen Maßstäben über gestriges Verhalten“. Damit werden Personen und letztlich Biographien einem Gericht überantwortet, das ihnen nicht gerecht werden kann. Es kommt, sage ich mal, zur Delegitimierung.

Dafür ließen sich weitere Beispiele finden. Ich erinnere an die Verdammung der „ostdeutschen Autorin“ Christa Wolf durch das westdeutsche Feuilleton nach ihrer Erzählung „Was bleibt“ (1990). Oder aber an den Streit um den Namen Ernst Moritz Arndt für die Uni Greifswald. Sehen Sie da Parallelen zur Debatte um Preußler in Pullach?

Ja, ich stimme Ihnen zu, wobei es im Fall von Christa Wolf schlichtweg Fakes, also falsche Behauptungen waren, die in die Welt gesetzt wurden. Denn die Autorin hat ihre Erzählung mitnichten umgeschrieben. Das war ja ein Moment des Vorwurfs. Ich habe das an den elf Manuskriptfassungen belegt. Bei Arndt sehe ich durchaus Parallelen zur Preußler-Debatte in Pullach. Allerdings ist es hier ein Gymnasium und dort eine Universität, die moralisch zu werten suchen. Ohne dem Gymnasium zu nahe treten zu wollen, wird man sagen können, dass die Fachkompetenz an einer Universität eigentlich größer sein sollte.

Der Germanist Prof. Dr. Carsten Gansel lebt in Neubrandenburg. Er war bis 2023 Professor für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Gießen. Gansel hat sich mit zahlreichen Publikationen einen Namen gemacht, unter anderem mit „Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre“ (2022) sowie der Reimann-Biographie „Ich bin so gierig nach Leben“ (2023).