Die US-Geheimdienste haben vier Jahre nach der Tötung von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden mehr als 100 Dokumente aus seinem Versteck in Pakistan freigegeben. Die Papiere geben Einblicke in seinen Gemütszustand und seine Ziele und zeigen Risse in dem Terrornetzwerk auf.

Der Fokus der Al-Kaida-Aktivitäten "sollte darauf liegen, die US-Bevölkerung und ihre Vertreter zu ermorden und zu bekämpfen", heißt es in einem der Dokumente, die nun der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die einzige Möglichkeit, die US-Außenpolitik zu beeinflussen, seien Angriffe, schreibt er an anderer Stelle. Dadurch sollten die USA gezwungen werden, "die Muslime in Ruhe zu lassen".

Die US-Spezialeinheit Navy Seals hatte bei ihrem Einsatz in Abbottabad am 2. Mai 2011 Tausende Dokumente gefunden. Dass mehr als 100 Schriftstücke freigegeben wurden, ist Folge einer richterlichen Anordnung. CIA-Sprecher Ryan Trapani bestritt einen Zusammenhang mit dem Bericht des Journalisten Seymour Hersh, der die offiziellen Angaben über die Ergreifung und Tötung Bin Ladens kürzlich infrage gestellt hatte.

"Gebt acht auf eure Zähne"

Die Angst, von US-Spionen in seiner Villa entdeckt zu werden, trieb Bin Laden laut den Dokumenten zu äußerster Vorsicht. So habe er seine Familie und sein Umfeld die Anweisung gegeben: "Unsere Sicherheitssituation erlaubt es nicht, zu Ärzten zu gehen. Also gebt acht auf eure medizinischen Bedürfnisse, vor allem eure Zähne."

Als seine Frau Umm Hamsa von einer Iran-Reise zurückgekehrt sei, musste sie demnach ihre Kleidung komplett wechseln, aus Angst, es könnte eine Wanze darin versteckt sein. "Da den Iranern nicht vertraut werden kann, könnte ein Chip in deine Sachen implantiert worden sein." Ärger rief Bin Laden mit seinem Verbot an seine Adjutanten hervor, per E-Mail zu kommunizieren.

Über die strategische Ausrichtung von Al-Kaida wurde offenbar gestritten. So forderte Bin Laden, die Terrorattacken sollten sich auf den größten Feind USA konzentrieren: "Wir sollten Einsätze gegen die Armee und Polizei in allen Regionen stoppen, außer im Jemen", schrieb er. Darin zeige sich seine Sorge, "eine Uneinigkeit des globalen Dschihads könnte den Niedergang der Bewegung einleiten", mutmaßt ein ranghoher US-Geheimdienstanalyst.

Bin Laden plädierte für große Anschläge

Dass die Organisation Al-Kaida im Irak, ein Vorläufer der Miliz "Islamischer Staat" (IS), im Irak einen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten anheizte, brachte Bin Laden und seinem damaligen Vize Aiman al-Sawahiri scharfe Kritik ein. Die Gruppe Dschihad- und Reformfront schrieb in einem Brief von 2007, dass Bin Laden die in seinem Namen angerichteten "Skandale" und das Blutvergießen nicht verurteile, dafür werde er von Gott zur Rechenschaft gezogen werden. "Wenn du es noch kannst, ist es deine letzte Chance, den Zusammenbruch des Dschihad im Irak aufzuhalten." Heute hat der IS Al-Kaida in den Schatten gestellt.

Bin Ladens schwindender Einfluss zeigt sich auch in taktischen Differenzen. So warb er in den Dokumenten bis vor seinem Tod für groß angelegte Terrorattacken. Einige seiner Stellvertreter fanden dies hingegen angesichts der permanenten Gefahr durch US-Drohnen zu schwer zu organisieren.

In einem schon vor Kurzem freigegebenen Dokument aus der damaligen Zeit wird Al-Kaida-Veteran Abu Mussab al-Suri mit der Haltung zitiert, kleinere Anschläge seien der bessere Ansatz. Er setzte sich mit seinem Konzept des "individuellen Dschihads" durch: Nach Bin Ladens Tod rief die neue Al-Kaida-Führung ihre Anhänger auf, als Einzelkämpfer Anschläge zu verüben.