Abu Dhabi. In Abu Dhabi können Sport-Fans zwei Abende in der Woche die Grand-Prix-Rennstrecke nutzen. Die Rennwagen kommen erst Ende November.

Bevor Vettel und Alonso kommen, ist immer alles anders, bevor sie mit dem Wippen ihrer Fußspitzen auch die letzten PS aus dem Motor ihrer Rennwagen treten, bevor ihre Motoren das ganze Areal mit einem Teppich aus unbändigem Krach überziehen. Nach ihnen wird wieder alles anders sein auf dem Yas Marina Circuit von Abu Dhabi – nach ihrem jährlichen Gastspiel, das stets nur ein paar Tage dauert. Nach ihnen sind die Tribünen leer, die Kassenhäuschen unbesetzt. Niemand schwenkt mehr die schwarz-weiß karierte Fahne.

Aber auf der Piste, auf dem 5,55 Kilometer langen Formel-1-Kurs mit seinen neun Rechts- und elf Linkskurven wird wieder mehr los sein. Sehr viel mehr! Denn dann kommen die Fahrradfahrer zurück, drehen auf Rennrädern oder Mountainbikes ihre Runden über den Asphalt. Und wer mag, kommt einfach mit dem Hollandrad und fährt mit.

Jeder soll es machen, wie es ihm gefällt

Jeden Dienstag- und jeden Sonntagabend ab 18 Uhr ist die Grand-Prix-Strecke der Emirate-Hauptstadt für Fahrradfahrer offen. Und für Jogger. Für Erstere gibt es nur zwei Regeln: Sandalen sind nicht erlaubt, und es gilt Helmpflicht. Alles andere ist Geschmacksache. Ob jemand nach Einbruch der Dunkelheit rasen mag, weil es endlich vier, fünf Grad kühler ist als kurz zuvor und das Thermometer nur noch Werte um die 30 Grad anzeigt. Oder ob er Ausflugstempo anschlägt, zwischendurch mal rechts ran fährt, das Fahrrad ins Gras legt und picknickt. Alles möglich, alles drin.

Die wichtigste Regel nämlich ist: Jeder soll es so machen, wie es ihm am besten gefällt. Platz ist für alle – für diejenigen, die in Tour-de-France-Tempo unterwegs sind und sich in Rennradler-Kluft gezwängt haben. Und für all die anderen, die meist die Mehrheit stellen. Damit man sich nicht in die Quere kommt, gilt auch noch: Jogger dürfen nur am rechten Rand und gegen die Fahrtrichtung unterwegs sein.

Fahrradfahren wird zum Event

„Als wir vor fünf Jahren damit begonnen haben, die Grand-Prix-Strecke an einem Abend pro Woche für Radfahrer zu öffnen“, erzählt Lynn Ismail vom Ausrichter Train Yas, „da kamen anfangs um die 50 Leute, heute sind es über 4000. Und neuerdings ist mittwochabends ausschließlich für Frauen geöffnet.“ Diesen Abend sind ein paar verschleierte Damen nur zum Zugucken gekommen – zusätzlich zu denen, die wie Lynn Sportdress tragen und mitfahren. Sie hocken auf mitgebrachten Klappstühlen nicht weit vom Start.

Drei Männer in schneeweißen Dishdashas spazieren ein Stück weiter im Gras und plaudern angeregt. Sie kommen, weil das Volksfest drumherum Spaß macht. Weil DJ Steve aus England Lounge-Musik auflegt und seine Boxen die Rhythmen weiterverteilen. Und weil Fahrradfahren in einem Land fast ohne Rad­wege ein Event ist.

Hier radeln Teens, Twens und Ergraute im grellen Sportdress

Ein Mann mit orangenem Turban tippt derweil irgendetwas in seinen Tabletcomputer. Und eine Frau in sehr kurzen Hosen unterhält sich bestens mit ihrem Handy. Sie sind alle da. Die ganz Jungen sogar mit ihren Kinderrädern, Teens, Twens, Ergraute in grellen Sportklamotten, dazwischen ganze Familien, diesmal ein Paar mit hellgrünem Kinderanhänger am Fahrrad. Der Nachwuchs in Prinzessinnenrosa schläft gerade selig. Wirklich angespannt ist hier niemand, um Ehrgeiz geht es nicht, ­Zeiten nehmen kann jeder für sich selber, wenn er denn möchte. Zu gewinnen gibt es dienstags nichts, organisierte Wettfahrten sind nicht vorgesehen.

In Pagodenzelten im Eingangs­bereich informieren Hersteller, verkauft einer frisch gepresste Obstsäfte, wirbt ein anderer für die emiratische Gesellschaft zur Förderung der Krebsvorsorge. Ein paar Meter weiter gibt es kostenlos Leih-Helme – und schräg gegenüber gratis 50 Leihfahrräder eines Sponsors zusätzlich zu den zwei Anbietern, die ihre Drahtesel gegen 30 bis 80 Dirham Miete, umgerechnet zwischen acht und knapp 20 Euro, verleihen.

Mit dem Rad vorbei an leeren Boxengassen

Es ist ein friedlicher Multikulti-Rummel, ein vielstimmiges Sprachengewirr: kein Krach, eher eine seltsam disziplinierte Stille, ohne dass irgendwer sie einfordern würde. Jeder scheint sich auf sich zu konzentrieren, auf sein Rad, den Sitz des Helmes – und darauf, sich alsbald in den Strom auf der Rennstrecke einzufädeln.

Seltsam, ganz gemächlich mit dem 24-Gang-Rad an der menschenleeren Boxengasse vorbeizuradeln, unter Flutlicht zwischen den leeren Tribünen der Zieleinfahrt vorbeizustrampeln. Und immer wieder unter großen Anzeigetafeln hindurchzurollen, die die Fahrbahn überspannen und auf denen wahlweise „Yas Marina Circuit“ oder „Abu Dhabi Grand Prix“ steht.

Der Rennkurs sollte für die Bevölkerung erlebbar gemacht werden

Das lauteste Geräusch jedenfalls ist das gleichmäßige Surren der Räder, ab und an kommt das Klicken der Gangschaltung hinzu. Als nette Geste der Natur kann man sich ­einigermaßen darauf verlassen, dass ­allabendlich leichter Wind aufkommt. Rückenwind natürlich. Und kommt er, wie das bei Rundkursen unvermeidlich ist, dann doch mal von vorne, ist er erfrischend. Und zwischendurch freut sich gerade ein kleiner Junge auf Deutsch und ruft zum größeren Nebenmann „Ich war eben 45 Sachen schnell, Papa. Und ich bin erst acht!“

Harold von den Philippinen ist Fahrradhändler, hat seinen Arbeitsplatz in der Yas Shopping Mall inmitten von Bikes jeder Machart, Größe, Farbe. Rennräder aus Deutschland, Alltagsdrahtesel aus China, Mountainbikes aus USA: alles zu haben, von günstig bis enorm teuer, von umgerechnet 200 bis weit über 2500 Euro. „Seit der Formel-1-Kurs für Radler offen ist, ist die Nachfrage stark angestiegen“, sagt Harold.

Bis dahin liefen vor allem so genannte Dirt Bikes mit dicken Ballonreifen für Fahrten durch wüstenhaftes Gelände, inzwischen sind es mehrheitlich Straßenräder. Ob er selber eins hat? „Klar“, sagt er, „eines hier, eines auf den Philippinen.“ Ob er damit zur Arbeit radelt? „Leider nein. Zu weit, zu heiß. Ich kann nicht total verschwitzt im Laden ankommen.“ Abends radelt er auch selbst. An der Corniche am Golf – oder mit all den anderen dienstags und sonntags auf dem Grand Prix-Kurs gleich nebenan. Der Rennkurs soll für alle erlebbar werden

War der ursprüngliche Gedanke, den wettkampffreien Rennkurs auszulasten und für die Bevölkerung erlebbar zu machen, ist daraus inzwischen mehr geworden. Die neue Lust am Radfahren scheint zu verbinden. In Fahrradkluft und mit Helm ist nicht mehr zu erkennen, wer Einheimischer, wer Urlauber, wer Gastarbeiter ist. Nur Hautfarbe und Gesichtszüge liefern allenfalls noch Anhaltspunkte. Alles andere gleicht die Lust aufs Fahrradfahren aus – in einem Land, das gemeinhin eher nicht als Radler-Destination gesehen wird.

Ob er auch ein Fahrrad hat? Hier in Abu Dhabi? „Bald“, sagt Taxifahrer Ragesh aus Kochi in Südindien, „es fährt gerade Schiff. Ich wollte es zu Hause lassen, aber jetzt habe ich meine Familie gebeten, es gut zu verpacken und mit ein paar anderen Sachen hierher zu verschiffen. Ich habe ihnen am Telefon gesagt, ich will Formel 1 damit fahren. Hier in Abu Dhabi. Sie sind ganz aufgeregt.“ Und er zwinkert mit dem rechten Auge in den Rückspiegel.

Tipps & Informationen

Anreise: z. B. mit Air Berlin bzw.
mit Etihad nonstop nach Abu Dhabi.

Parcours: Zum Radfahren auf www. yasmarinacircuit.com registrieren. Grand Prix: 25. bis 27. November 2016.

Übernachtung: z. B. im Viceroy Yas (www.viceroyhotelsandresorts.com)
ab rd. 181 Euro pro DZ.

(Die Reise wurde unterstützt von Tourism & Culture Authority Abu Dhabi.)