Das Zwischenjahr heisst reisen, Horizonte erweitern, Menschen kennenlernen. Doch in diesem Jahr ist alles anders

Sie wollten nach der Matur erst einmal herausfinden, was sie wirklich wollen. Und haben deshalb trotz Corona eine Pause eingelegt. Drei junge Menschen erzählen von ihren Plänen für das Zwischenjahr.

Melanie Keim
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Das Zwischenjahr steht für die grosse Freiheit, für Abenteuer, die man nicht so schnell vergisst. Oft erzählt man noch Jahre später von der ersten Asienreise mit der besten Freundin, dem Flirt, von dem man besser Italienisch lernte als an der Sprachschule, oder all den Truffes, die man als Weihnachtsaushilfe stibitzte. Dieses Jahr ist das Zwischenjahr nicht mehr so verheissungsvoll. Die weite Welt steht einem nicht mehr offen, auch Zwischenjobs sind rar, weshalb sich offenbar mehr Maturandinnen und Maturanden direkt für ein Studium entschieden haben. Das schreibt die Universität Basel, die 4 Prozent mehr Einschreibungen auf Bachelorstufe verzeichnete. Bei der ETH Zürich waren es auf dieser Stufe 7 Prozent mehr Immatrikulationen als im Vorjahr, und an der Pädagogischen Hochschule Zürich legte die Studierendenzahl in Studiengängen mit einem Abschluss für die Volksschule sogar um 10 Prozent zu. Doch nicht alle beginnen nun wegen Corona mit dem Studium.

«Nach der Matur wäre ein Studium der vorgegebene, einfache Pfad gewesen»: Finn Strähle.

«Nach der Matur wäre ein Studium der vorgegebene, einfache Pfad gewesen»: Finn Strähle.

Annick Ramp / NZZ

Finn Strähle, 18, aus Männedorf, schloss das neusprachliche Gymnasium ab und hat noch keine konkreten Pläne für später

Für mein Zwischenjahr hatte ich seit drei Jahren einen fertig geschriebenen Plan. Ich wollte in Kanada als Skilehrer und nebenbei in einem Sportgeschäft arbeiten. Dann kamen Ende Februar auf einmal ein Kreuzbandriss und Corona. Inzwischen bin ich froh, dass es so gekommen ist. Denn ich musste mich viel mehr damit auseinandersetzen, was ich wirklich will.

Nach der Matur wäre ein Studium der vorgegebene, einfache Pfad gewesen. Doch ich will den Struggle, will einmal selbst entscheiden müssen. Wenn ich jetzt ein Studium beginnen würde, wäre meine Wahl auch stark von aussen beeinflusst, von der Meinung von anderen oder der Suche nach Anerkennung. Ich möchte nach der Schule erst einmal herausfinden, was mir gefällt.

Bis November arbeite ich bei einer Versicherung als Kundenberater, das ist reines Mittel zum Zweck. Für die Zeit danach habe ich verschiedene «best guesses» definiert. So nenne ich Dinge, die ich beruflich machen könnte, bei denen ich aber noch nicht weiss, ob sie etwas für mich wären. Im Winter werde ich als Videograf und Fotograf für meinen Skiklub und ein Skigebiet arbeiten, für eine Skimarke mache ich das Online-Marketing und baue einen eigenen Ski. Daneben möchte ich einen Blog über meine Erfahrungen schreiben, und, falls er erfolgreich ist, vielleicht Vorträge an Schulen halten. Ich wünschte mir, dass Leute in meinem Alter etwas bewusster entscheiden und auch einen gewissen Anspruch an sich haben.

In diesem Jahr möchte ich möglichst viel aufnehmen und lernen: ein besserer Freund werden, meine Kommunikation mit anderen verbessern, im Sport richtig gut werden. Zum Beispiel will ich dieses Jahr einen Half Iron Man und einen MMA-Fight absolvieren.

Im nächsten Sommer gehe ich ins Militär, hänge also ein zweites Zwischenjahr an. Deshalb sage ich momentan, dass ich ein Zwischenjahr auf unbegrenzte Dauer mache. Fast alle in meinem Umfeld haben wegen Corona gleich mit dem Studium begonnen oder machen das Militär und wissen, dass sie nachher studieren wollen. Da kommt bei mir schon auch die Frage auf, ob ich nicht doch mit dem Studium hätte beginnen sollen. Ich könnte nach St. Gallen gehen, eine WG haben, dieser Student sein, der alles im Griff hat und nebenbei noch etwas Kung-Fu macht. Das wäre etwas Handfestes, Messbares. Aber es wäre nicht das Richtige.

«Das Gefühl, dass wir so schnell erwachsen werden»: Pina Köhler.

«Das Gefühl, dass wir so schnell erwachsen werden»: Pina Köhler.

Annick Ramp / NZZ

Pina Köhler, 19, aus Zürich, schloss am Gymnasium für bildende Kunst, Liceo Artistico, ab und will Medizin studieren

Als im Frühling klar wurde, dass wir keine Maturprüfungen haben, fragte ich mich: «Was mache ich jetzt mit dieser freien Zeit?» Diese Leere machte mir ein bisschen Angst, und ich hatte auch das Gefühl, dass ich von einem Tag auf den andern selbst für mich verantwortlich bin. Ich zog spontan mit Freundinnen und Freunden für zwei Monate in eine leerstehende Studi-Wohnung und meldete mich für ein Hebammenpraktikum an.

Das war so toll. Wir fuhren mit dem E-Bike durch die ganze Stadt und machten fünf bis acht Hausbesuche pro Tag. Da erhält man einen total intimen Einblick. Weil man zum Helfen da ist, gibt es kaum Berührungsängste. Angefangen haben wir bei einer Anwaltsfamilie am Zürichberg, danach ging es direkt zu einer Flüchtlingsfamilie. Für mich war es auch wichtig, im Zwischenjahr nicht immer um Menschen herum zu sein, die mir ähnlich sind.

Als Corona kam, hatte ich noch keine Pläne für mein Zwischenjahr. Ich wollte nur für einmal nicht durchgeführt werden wie in der Schule und stattdessen einen Einblick in die Medizin erhalten. Nach dem Hebammenpraktikum schnupperte ich in verschiedenen Spitälern, in einer Frauenklinik, einer Herzklinik, auf der Kinderonkologie. Das waren alles spannende Bereiche, aber ich hatte das Gefühl, nicht wirklich ins Geschehen involviert zu sein. Meine Mutter hatte eine Krise und fand, dass ich doch jetzt endlich einmal etwas annehmen solle. Doch ich wollte nicht anfangen, bevor ich das Richtige hatte.

Jetzt arbeite ich seit vier Wochen auf der Traumatologie im Unispital Zürich. Dort landen Notfälle von Jung bis Alt, vom Töffunfall bis zum Suizidversuch. Das gefällt mir und ist echt spannend. Natürlich nimmt es einen auch sehr mit. Aber ich kann relativ gut mit der Belastung umgehen und merke auch, dass ich sehr viel Energie aufbringe. Und statt dass es im Zwischenjahr nur um mich geht, kümmere ich mich um andere.

Von Leuten, die im letzten Jahr abgeschlossen haben, hört man schon Dinge wie: «Ich habe noch nie so viele Leute kennengelernt wie im Zwischenjahr.» Da war schon mehr Party, mehr Unbeschwertheit. Wahrscheinlich schaue ich jetzt mehr auf den Nutzen, als ich das sonst getan hätte. Das ist positiv und negativ: Ich fokussiere mehr darauf, was ich will, doch es hat auch etwas Ernsthaftes. Dazu müssen wir wegen Corona alle mehr Verantwortung tragen für unsere Handlungen. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass wir so schnell erwachsen werden.

«Ursprünglich wollte ich nach dem Sommer für zwei Monate zu meinem Vater nach Berlin»: Sophie Nadler.

«Ursprünglich wollte ich nach dem Sommer für zwei Monate zu meinem Vater nach Berlin»: Sophie Nadler.

Annick Ramp / NZZ

Sophie Nadler, 19, aus Zürich, schloss am Gymnasium für bildende Kunst, Liceo Artistico, ab und will bildende Kunst studieren

In der Schule wurden wir ständig mit Infos vollgestopft und hatten gar nicht die Möglichkeit, uns nebenbei mit anderen Dingen auseinanderzusetzen. Deshalb war für mich schon lange klar, dass ich ein Zwischenjahr machen will. Ursprünglich wollte ich nach dem Sommer für zwei Monate zu meinem Vater nach Berlin, dort einen Job suchen und mich in der Klimastreik-Szene engagieren. Doch jetzt hat das wenig Sinn, den Plan habe ich auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Wahrscheinlich hätte es mich auch überfordert. Nun mache ich eben in Zürich meine Erfahrungen.

Im Grunde wollte ich in diesem Jahr herausfinden, ob ich wirklich an eine Kunsthochschule soll oder doch an der Uni Germanistik und Philosophie studieren. «Mach, worauf du Lust hast. Nachher hast du immer noch viele Möglichkeiten», raten mir die einen. Die anderen sagen, dass Kunst ein hartes Pflaster sei. Das nervt mich eher. Ich habe nämlich kein Problem damit, später neben der Kunst einen anderen Job zu machen. Da hat man sogar weniger Druck, sich in der Kunstszene ständig zu vermarkten. Und wenn ich ältere Menschen anschaue, die glücklich sind mit ihrem Leben, sage ich mir: Hätten sie diese Ratschläge befolgt, wären sie nicht da, wo sie sind.

Jetzt lerne ich in einem etwas speziellen Praktikum gerade ganz viele Menschen kennen, die alle älter als ich sind. Das kam so: Ich fragte im Sommer den Künstler Roland Roos, über den ich in der Schule einmal einen Text geschrieben hatte, ob ich bei ihm ein Praktikum machen könne. Roland ist Konzeptkünstler und wollte mir ein spannendes Praktikum ermöglichen, bei dem ich nicht einfach seine rechte Hand bin. Er hatte deshalb die Idee, mich tageweise zu Bekannten von ihm zu schicken. So war ich in den letzten drei Wochen mit einem Tierarzt unterwegs, ich war an einem Badminton-Turnier für Gehörlose, bei einer Journalistin, einem Grafiker und einem Kurator. Ich besuchte eine Künstlerin in Antwerpen, war bei Künstlern in Berlin und München. Einen Tag verbrachte ich auch mit jemandem, bei dem ich nicht ganz verstand, wovon er lebt.

Das ist eine total privilegierte Situation. Ich kann in verschiedene Berufe und in das Leben von Menschen reinschauen, die alle schon weiter sind als ich. Für mich ist das sehr wertvoll. Inzwischen weiss ich auch, dass ich Kunst studieren will. So werde ich in diesem Jahr auch an meinem Bewerbungsdossier arbeiten. Aber wie es nach dem zweimonatigen Praktikum weitergeht, weiss ich noch nicht. Natürlich wäre es cooler, wenn ich ohne Corona planen könnte. Und doch hat mir das Virus keinen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn ich mein Leben anschaue, muss ich sagen: Es läuft.