Verkehrssicherheit:Strikt nach Tempolimit fahren, ist so stressig wie rasen

Verkehrssicherheit: Strich 50, aber das Stresslevel bleibt hoch.

Strich 50, aber das Stresslevel bleibt hoch.

(Foto: Collage Jessy Asmus)

Einen Monat lang fuhr unser Autor exakt so schnell, wie es ihm die Verkehrsregeln erlaubten. Schnell stellte sich heraus: Damit ist er ziemlich allein auf den Straßen.

Von Felix Reek

Ein ganz normaler Freitag. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit und fahre auf dem Mittleren Ring in München stur Tempo 60. Plötzlich wird es grell im Auto, im Rückspiegel sehe ich ein riesiges Mercedes-Emblem. Ein Lkw-Fahrer lässt seine Scheinwerfer aufblitzen und versucht, mir zu zeigen, wie nah er an mich heranfahren kann, bevor er mich zerquetscht. Er betätigt noch einmal die Lichthupe. Offenbar bin ich ihm nicht schnell genug. Ich widerstehe dem Drang, aufs Gaspedal zu treten. Mit solch kindischen Anwandlungen ist Schluss. Mein Vorsatz: Einen Monat lang will ich mich genau an das jeweils vorgegebene Tempolimit halten. Und zwar ganz akribisch.

Noch immer klingen mir die Worte meines Fahrlehrers im Ohr: "Immer Strich fahren!" Er meinte damit den Zeiger des Tachometers, der sich genau auf der vorgeschriebenen Geschwindigkeit auf dem Ziffernblatt zu positionieren hatte. Das nahm er sehr genau. 20 Jahre später wende ich diese Weisheit wieder an. Bei Tempo 50 fahre ich Strich 50. Bei Tempo 80 Strich 80. Und bei Tempo 120 eben Strich 120. Doch schnell stellt sich heraus: So einfach ist das gar nicht. Wie alle anderen bin ich ständig unter Zeitdruck. Schnell zur Arbeit, davor noch das Kind in der Kita abliefern, dazwischen mal eben kurz zum Supermarkt zum Einkaufen. Hauptsache, schnell, schnell, schnell. Ich bin immer in Eile und versuche, das mit dem Auto zu kompensieren.

Vielen anderen geht es offenbar genauso. Der folgende Montag, mitten im Berufsverkehr auf dem Mittleren Ring. Es ist nass und kalt, der Verkehr ist zähflüssig. Die digitalen Straßenschilder im Tunnel durch die Münchner Innenstadt geben Tempo 40 vor. Ein paar andere tun es mir gleich, aber vielen ist das offensichtlich zu gemächlich. Mein Auto fährt auf der linken von zwei Spuren. Zuerst überholt mich rechts mit etwa 60 Stundenkilometern ein SUV. Kurz darauf folgt ein Lkw der Stadtreinigung. Als sie fast aus meinem Sichtfeld verschwunden sind, leuchten ihre Bremslichter auf. Ein Sinneswandel? Nervöse Zuckungen im Bremsfuß? Nein, da vorne steht nur einer der festinstallierten Blitzer. Ich bin genervt, schalte den Tempomat an und frage mich: Warum tue ich mir das eigentlich jeden Tag an?

Die Antwort gibt Verkehrspsychologin Birgit Scheucher. Für viele sei das Auto immer noch das Verkehrsmittel ihrer Wahl, weil es die Illusion der "unbegrenzten Mobilität" vorgaukelt. "Ich entscheide, wann ich wie und wo von A nach B komme", erklärt sie. "Die Realität ist eine andere." Zum Beispiel Stau oder die ewige Parkplatzsuche. Das alles kostet Zeit. Also versuchen wir, gefühlt die Kontrolle über die Situation wiederzugewinnen. Wir wechseln im Stau öfter die Spur oder fahren eben ein bisschen schneller.

Raser erfahren sich kaum einen Zeitvorteil

Wie gering dieser Vorteil ist, zeigte vor einigen Jahren ein Versuch von Auto Bild: Auf der Strecke von Füssen nach Flensburg ließ das Fachblatt einen Raser gegen einen Schleicher antreten. Das Ergebnis nach 1000 Kilometern: Der Testfahrer mit Bleifuß war 13 Minuten schneller als sein Kollege, der sich an die Tempolimits hielt und auf den freien Abschnitten gemächlich weiterfuhr. Der Schnellfahrer verbrauchte aber wesentlich mehr Sprit. Wie viel Zeit soll mir die Hetzerei also einbringen, bei einer täglichen Strecke zwischen 50 und 100 Kilometer? Die Antwort ist: gar keine.

Wobei ich zugeben muss: So viele Raser gibt es gar nicht. Sie bleiben nur besser im Gedächtnis, weil man sich über sie aufregt. Richtet sich die Konzentration auf die restlichen Verkehrsteilnehmer, ist etwas anderes viel auffälliger: Viele von ihnen fahren moderat zu schnell. Und zwar genau so, dass es nicht zu teuer wird, wenn sie geblitzt werden.

Geringes Schuldbewusstsein

Diese Beobachtung stützt eine Studie der Universität Portsmouth. Sie wertete 150 000 Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens auf deutschen Autobahnen und 290 000 Geschwindigkeitsmessungen auf Landstraßen aus. Das Ergebnis: An bestimmten Stellen, die analog zu den Schwellen des Bußgeldkataloges sind, gibt es doppelt so viel geblitzte Fahrer wie sonst. Und zwar genau dort, wo bei ein paar Kilometern mehr eine höhere Strafe des Bußgeldkatalogs droht. Denn: Wer bei vorgeschriebenen 120 km/h mit 141 Stundenkilometer auf der Autobahn geblitzt wird, zahlt 70 Euro und erhält einen Punkt in Flensburg. Mit 135 Stundenkilometern auf dem Tacho beträgt die Strafe nur 30 Euro. Für diese Fahrer ist das offenbar verschmerzbar.

Das Schuldbewusstsein ist dabei gering. Auch Verkehrspsychologin Birgit Scheucher kennt solche Fälle aus ihrer täglichen Arbeit. Oft hört sie von Rasern das Argument: "Ich lasse mir doch nichts vorschreiben! Ich bin ein freier Bürger, ich kann selbst beurteilen, wie schnell ich fahren kann." Für sie sind das Ausreden. "Das sind Rechtfertigungsstrategien, die in eine politische Richtung gehen, die natürlich Nonsens sind", sagt sie. "Schneller fahren ist keine politische Aussage, sondern die Nutzung eines persönlichen Vorteils."

Der Stress ist da, so oder so

Der Monat ist vorbei, es ist der letzte Tag meines Selbstversuchs. Wie automatisch schalte ich den Tempomaten ein. Glücklicherweise gibt mir diesmal niemand eine Lichthupe. Zeit, die letzten Wochen zu reflektieren. Was ich eindeutig gelernt habe: Wenn die Straßen leer sind, ist das für viele die Rechtfertigung, schneller zu fahren. Das gilt umso mehr, wenn es spät in der Nacht ist. Und: Im Stau kämpfen viele um jeden Meter. Auch wenn es sinnlos ist.

Meine persönlichen Erkenntnisse sind hingegen weniger eindeutig. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, der Stress, immer zu wenig Zeit zu haben und zu gehetzt zu sein, würde sich durch das strikte Halten an die Geschwindigkeitsvorschriften in eine Zen-artige Gelassenheit wandeln. Die Wahrheit ist: Er hat sich nur verlagert. War ich vorher gestresst, weil ich stetig das Gefühl hatte, nicht schnell genug voranzukommen, bin ich es jetzt, weil mir die anderen Verkehrsteilnehmer den Eindruck vermitteln, zu langsam zu sein.

Es kommt auf die Zeitplanung an

Die Lösung dafür ist laut Verkehrspsychologin Scheucher einfach: "Eine angemessene Zeitplanung. Damit nehme ich Stress heraus. Ich bin ja nur zu spät dran, weil ich knapp plane - und weil ich mein Auto nutze", erklärt sie. "Wenn ich öffentlich fahre, komme ich gar nicht auf die Idee. Da gehe ich rechtzeitig los, weil ich weiß, ich kann dem U-Bahn-Fahrer lange sagen: ,Fahr schneller!', das tut er aber nicht." Klingt eigentlich einfach, oder?

Eine Woche später. Ein Münchner S-Bahnhof. Ich sitze seit 20 Minuten im Abteil. Doch die S-Bahn bewegt sich nicht. Um genau zu sein, bin ich immer noch an der Haltestelle meines Arbeitsplatzes. Das heißt, mein Heimweg hat sich in den letzten 20 Minuten um keinen Meter verkürzt. Keine Ansage, keine Information, nichts. Zorn steigt in mir auf. Plötzlich rollt die S-Bahn an. Es geht weiter. Endlich. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich jetzt weniger gestresst wäre. Vielleicht fahre ich morgen doch wieder mit dem Auto.

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