Femizide in Brasilien:Wenn Waffen gegen Frauenmorde helfen sollen

Femizide in Brasilien: Eine Frau zielt mit einem Revolver in einem Waffenladen in São Paulo.

Eine Frau zielt mit einem Revolver in einem Waffenladen in São Paulo.

(Foto: Miguel Schincariol/AFP)
  • Die Zahl der Morde an Frauen ist im internationalen Vergleich sehr hoch.
  • Der neue Präsident Jair Bolsonaro lockerte per Dekret den Waffenbesitz - und begründet das mit dem "Recht des Volkes auf Selbstverteidigung".
  • Zahlreiche Studien zeigen aber, dass mit der Zahl der Waffen die Waffengewalt keineswegs sinkt, sondern vielmehr signifikant steigt.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Noch während des Neujahrsfestes wurde Iolanda Crisóstomo, 42, von ihrem früheren Ehemann getötet, mit 37 Messerstichen vor den Augen ihres fünfjährigen Sohnes. Im Fall von Simone Oliveira, 40, benutzte der Gatte und Mörder einen Vorschlaghammer. Bei Simone Fernandes, 40, war es ein Revolver. Als die Leiche von Tamires Blanco, 30, gefunden wurde, lag ihre elfjährige Tochter weinend auf dem Köper der toten Mutter. Wie das Jahr 2019 in Brasilien begonnen hat? Ungefähr so, wie 2018 zu Ende gegangen war: alle paar Stunden ein brutaler Frauenmord.

Allein in den ersten elf Januartagen zählten die Behörden 33 dieser sogenannten Femizide. Weitere 17 Frauen überlebten einen Mordversuch. In nahezu allen Fällen war der Tatort zu Hause und der Täter oder Tatverdächtige ein dem Opfer nahestehender Mann, ein eifersüchtiger Gatte, ein Liebhaber, ein Ex-Freund. Die Zeitung O Globo schreibt von einer "Epidemie".

In der brasilianischen Rechtsprechung wird ein Frauenmord nicht wie jeder andere Mord behandelt. Unter der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff wurde 2015 ein "Gesetz gegen den Femizid" verabschiedet, das die Tötung einer Frau allein aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau ist, zur "niederträchtigen Straftat" erklärt. Das Gesetz gilt international als vorbildlich, zweifellos hat es bislang aber nicht ausgereicht, um die Brasilianerinnen vor den Brasilianern zu schützen. Der neue Präsident Jair Bolsonaro hält es deshalb für überflüssig.

Seine Strategie sieht sinngemäß so aus: Gebt den Frauen Waffen, dann können sie die Männer erschießen, bevor sie selbst erschossen werden. In einem seiner wenigen Fernsehinterviews, das er im Wahlkampf dem Sender Globo News gewährte, sagte Bolsonaro: "Glauben Sie, dass die Frauen lieber ein Zettelchen haben, auf dem Femizid-Gesetz steht, oder eine Pistole in der Tasche?" Mehr als 90 Prozent würden nach seiner Darstellung die zweite Option wählen. Umfragen bestätigen eher das Gegenteil. An anderer Stelle erklärte Bolsonaro direkt an die Brasilianerinnen gerichtet: "Ich bin für den Waffenbesitz, natürlich auch für euch, liebe Frauen! Wir müssen diese Frauenmord-Geschichte beenden. Wenn ihr bald Waffen am Gürtel habt, dann gibt es eben Männermorde." Rückblickend stellen seine Presseleute das als Witz dar.

Kein Witz ist, dass Bolsonaro nun per Dekret die Regeln für den Waffenbesitz gelockert hat. Wer mindestens 25 Jahre alt und nicht vorbestraft ist, darf künftig bis zu vier Feuerwaffen erwerben. Der Präsident begründete das mit dem "Recht des Volkes auf Selbstverteidigung". 2018 wurden in Brasilien 64 000 Menschen getötet, so viele wie nirgendwo sonst außerhalb von Kriegsgebieten. Bolsonaro behauptet, die Gewalt eindämmen zu können, indem er Waffengleichheit zwischen den "guten Bürgern" und den Banditen herstellt. Eine Einschränkung, die keine ist: Das neue Waffendekret gilt in allen Bundesstaaten mit jährlich mindestens zehn Tötungsdelikten pro 100 000 Einwohner. Derzeit fallen alle Bundesstaaten in diese Kategorie.

"Wo es keine Schusswaffen gibt, geht das Risiko für häusliche Gewalt nicht zurück"

Schon jetzt sind in Brasilien mehr als 870 000 Schusswaffen registriert. In einem zweiten Schritt will Bolsonaro noch in diesem Monat eine Amnestie auf den Weg bringen, um rund acht Millionen illegal kursierende Waffen zu legalisieren. Zahlreiche Studien zeigen aber, dass mit der Zahl der Waffen die Waffengewalt keineswegs sinkt, sondern vielmehr signifikant steigt. Experten wie die Staatsanwältin Valéria Scarance von der Sondereinheit gegen häusliche Gewalt in São Paulo befürchten, dass die neue Regelung vor allem für Frauen ein höheres Risiko bedeutet. "Wo es keine Schusswaffen gibt, geht das Risiko für häusliche Gewalt nicht zurück. Aber ihre Existenz im Haushalt erhöht die Todesgefahr für Frauen, das ist alarmierend", wird Scarance im Nachrichtenmagazin Época zitiert.

Die neue Regierung sieht diesen Zusammenhang nicht. Onyx Lorenzoni, eine Art Generalsekretär im Ministerrang, sagte dazu: "Wir sehen kleine Kinder, die ihren Finger in den Mixer halten, auf den Knopf drücken und ihr Fingerchen verlieren. Verbieten wir deshalb Mixer?" Natürlich nicht. Was den Frauen und damit auch den Kindern in Brasilien wirklich helfen würde, wären aus Sicht der Anwältin und Frauenrechtlerin Leila Linhares Präventionskampagnen und Aufklärungsarbeit: "Wir haben es hier mit einer sehr archaischen Macho-Mentalität zu tun", sagt sie am Telefon: "Die Idee, dass der Mann die Frau besitzt, ist in der brasilianischen Gesellschaft noch weit verbreitet." Zwischen Tätern und Opfern von Femiziden gebe es meist eine lange Beziehung der Gewalt, die oft psychisch beginne und dann körperlich werde. Die größte Gefahr für die Frauen bestehe, wenn der Mann das Gefühl habe, die Kontrolle zu verlieren, so Linhares.

Wer sich um diesen dringend notwendigen Mentalitätswandel eigentlich kümmern müsste, ist die neue Ministerin für Frauen, Familien und Menschenrechte, Damares Alves. Die evangelikale Priesterin hat zu ihrem Amtsantritt eine "neue Ära" ausgerufen: "Ab jetzt tragen die Jungen wieder Hellblau und die Mädchen Rosa!"

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