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Isolde Sellin

Sex Education, Awareness, Orientierungswoche für Eltern Zehn Dinge, die ich im Auslandssemester in den USA erlebt und gelernt habe

Für zwei Semester bin ich als Austauschstudentin an der University of Denver in Colorado. Studiert habe ich schon jetzt einiges: vor allem ein Bildungssystem, das sich in vielen Punkten vom deutschen unterscheidet.
Autorin Sellin mit Unilogo-T-Shirt: Ein Dorf mit 10.000 Menschen, Campus genannt

Autorin Sellin mit Unilogo-T-Shirt: Ein Dorf mit 10.000 Menschen, Campus genannt

Foto: Ina Berner

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Es war auch und vor allem Angst, die ich empfand, als ich im September 2023 ins Flugzeug stieg. Ich war noch nie in den USA gewesen und sollte nun für zehn Monate an der University of Denver in Colorado studieren. Abgesehen von ein paar Klischees aus Filmen wie »Pitch Perfect« hatte ich kaum eine Vorstellung davon, wie mein Leben dort aussehen würde.

Inzwischen lebe ich seit fast sieben Monaten in Denver, ich habe meinen Alltag, meine Freund:innen – schlicht: mein US-amerikanisches Unileben. Während ich diese Sätze schreibe, sitze ich mit Kommilitoninnen in einem Coffeeshop, draußen schmilzt der Schnee. Die Angst ist weg, jetzt ist da Aufregung, vor allem aber Zufriedenheit. Die Entscheidung, zehn Monate in den USA zu studieren, wird für immer zu den mutigsten und besten meines Lebens gehören.

Und doch fallen mir immer noch an jedem Tag und in jedem Gespräch neue Unterschiede auf zu dem, was ich gewohnt war und noch immer gewohnt bin. Vieles ist gewöhnungsbedürftig, einiges kurios, anderes einfach nur anders. Hier sind zehn Dinge, die ich während meiner Zeit in den USA erlebt und gelernt habe.


1. Du studierst? Her mit deinem Geld!

An US-amerikanischen Universitäten wird einem das Geld schneller aus der Tasche gezogen, als man »broke« sagen kann. Das Leben in den USA ist generell sehr teuer, vor allem in Großstädten wie Denver. Doch auf dem Campus muss das Geld besonders locker sitzen. Für einen »shared room«, ein geteiltes Zimmer, zahle ich knapp 1400 Dollar – pro Monat. Schnarchende Mitbewohnerin inklusive.

Die Mieten sind für viele meiner Kommiliton:innen aber noch nicht der größte Kostenpunkt. Ich habe das Glück, im Rahmen eines Austauschprogramms hier zu sein, eigentlich studiere ich im Master an der Universität Tübingen. Das heißt, ich zahle keine Studiengebühren – ganz anders als die meisten anderen. Sie kostet ein Jahr Studium an der University of Denver ziemlich genau 60.000 Dollar . Das ist selbst für eine Privatuni viel.

Sowohl Eltern als auch Studierende in den USA nehmen für die Ausbildung häufig Kredite auf. Laut »Forbes«-Magazin sind mehr als die Hälfte aller Studierenden am Ende ihres Studiums verschuldet – mit durchschnittlich knapp 30.000 Dollar .


2. Campus-Kosmos

Nach dem kleinen Tübingen freute ich mich auf das große Denver. Doch es kam anders: Statt in die Großstadt zog ich in ein Dorf mit 10.000 Menschen, Campus genannt.

An vielen Tagen verlasse ich den Campus nicht. Alles, was ich brauche, bekomme ich hier – wenn auch mitunter überteuert. Im Universitäts-Fanshop kann ich Müsliriegel kaufen, Babystrampler, Yogahosen, Eishockeyschläger– natürlich alles mit dem Unilogo.

Auch die Mensa hat viel zu bieten. Also für diejenigen, die Fleisch essen. Ich darf als Vegetarierin ebenfalls 13 Dollar für eine Mahlzeit zahlen und mich mit Beilagen begnügen.


3. Orientierungswoche… für Eltern?!

»Ersti-Wochen« – in Deutschland verbinde ich das vor allem mit Kneipentouren und dem verzweifelten Versuch, nicht allein in der Mensa oder Vorlesung zu sitzen. Leute kennenlernen, das war sicherlich auch ein Ziel der Orientierungswoche, die ich an der University of Denver erlebte. Allerdings hatte die noch eine weitere Zielgruppe: die Eltern. In Scharen liefen sie über den Campus und wurden genauso entertaint wie ihr Nachwuchs.

Dafür gibt es vermutlich zwei Gründe: In den USA schließt das College in den meisten Fällen direkt an die Highschool an. Laut dem aktuellsten OECD-Bericht über die Bildungssysteme der Mitgliedstaaten sind junge Erwachsene in den USA im Schnitt 20 Jahre alt, wenn sie mit sogenannter Tertiärbildung, also etwa einem Studium, beginnen – drei Jahre jünger als in Deutschland.

Viele Erstsemester (in den USA »Freshmen« genannt) ziehen für ihr Studium in einen anderen Staat, wohnen fortan also mehrere Flugstunden von ihrem Heimatort entfernt. Wenig verwunderlich, dass die Eltern sie bei diesem großen Schritt begleiten wollen.

Dazu möchten sie wohl auch sehen, wofür sie selbst oder ihr Kind sich verschulden. Im Universitätsshop können sie dann noch ein Sweatshirt kaufen, mit dem University-of-Denver-Logo und dem Zusatz »Mom« oder »Dad«.


4. Sex Education

Im ersten Studienjahr übernehmen die Universitäten in den USA die Aufklärung, für die in Deutschland eher weiterführende Schulen oder Eltern verantwortlich sind. In meiner Orientierungswoche saß ich in einem Theaterstück, das einen sexuellen Übergriff und den Umgang mit Alkohol auf einer Party thematisierten. Es gab Workshops zu allem, was mit Sex, Alkohol und Drogen zusammenhängt – erforderlich für alle, die ihren Abschluss bekommen wollen.


5. Du bist Sportler:in? Dann entspann dich doch in deinen Kursen!

Wer in den USA an eine kostenlose Ausbildung kommen will, muss für das Sportteam einer Universität antreten. Ob Football, Basketball oder wie in der Wintersport-Stadt Denver Eishockey: Athlet:in einer Uni zu sein, ist nicht nur finanziell bequem. Auch das Studium nimmt dann mitunter einen anderen Stellenwert ein.

Sportler:innen dürfen nämlich häufiger wegen Trainings oder Auswärtsspielen fehlen, Essays oder Klausuren später einreichen. Die Uni scheint sich regelrecht darum zu bemühen, die Sportler:innen so wenig wie möglich mit dem eigentlichen Studium zu belästigen – so zumindest mein Eindruck. Sie sollen sich aufs Training und vor allem aufs Gewinnen konzentrieren können. Neben Prestige bringt das der Universität vor allem eins: Werbeeinnahmen.


6. Apropos Kurse

Die Namen der Kurse an meiner deutschen Uni folgen einer einfachen Regel: Sie bringen das Thema auf den Punkt. Im zweiten Bachelor-Semester hatte ich die obligatorische »Sprechübung«, in der wir öffentliches Sprechen und Redenhalten trainierten. Der Public-Speaking-Kurs an der University of Denver hatte sehr ähnliche Inhalte, lockte im Kursprogramm aber mit dem Titel »Speaking on Ideas that Matter«. Das fühlt sich doch gleich viel weltbewegender an.

Und nicht nur das: In manchen Kursen habe ich Dinge gelernt, von denen ich in Deutschland nur träumen konnte. Nach einem Kurs zu »Indigenous Feminisms« mit einer Professorin, die selbst der Gemeinschaft der Poarch Band of Creek Indians angehört, bin ich jetzt für jede Winnetou-Diskussion gewappnet. Von Karl May und Winnetou hat hier übrigens noch niemand etwas gehört. Aber warum sollten sie auch koloniale Fantasyfiguren kennen?


7. You’re doing great!

Es stimmt: Die US-Amerikaner:innen sind herzlich. Schon in meinen ersten beiden Wochen hier wurde ich im Supermarkt »Honey« genannt, jede zweite Person wollte mit mir einen Kaffee trinken gehen. Mittlerweile habe ich verstanden, dass vieles nicht so verbindlich gemeint ist, wie ich es verstehe. Dennoch werde ich diese Freundlichkeit sehr vermissen, wenn ich wieder in Deutschland bin.

Manchmal hat die Herzlichkeit aber auch Nachteile. So »sugarcoated« (auf Deutsch: überzuckert) wie das Alltagsleben in den USA ist nämlich auch die Feedback-Kultur an meiner Uni. Im erwähnten Public-Speaking-Kurs etwa wurden Reden in gekrümmter Haltung, mit Blick auf den Zettel und halb geschlossenem Mund vorgelesen. Die Reaktion des Professors: enthusiastisches Klatschen und »Great job!«. Oft muss ich also raten, ob »You’re doing great!« in der ehrlichen Variante ein »That was shit, but I won’t tell you that« ist.


8. Lass mich dir eine gute Note geben!

Es war ein absurder Moment: Vor einem Multiple-Choice-Test in einem meiner Kurse ging der Professor jede einzelne Frage mit uns durch. Alle zückten ihren Stift, um jede Antwort zu notieren. Hinterher hatten wir eine Stunde Zeit, um die Fragen genau so zu beantworten, wie der Professor es uns vorgesagt hatte.

Tatsächlich wurden einige Klausuren oder »written assignments« wie Essays genauso angekündigt: »Ich will, dass ihr alle ein A bekommt!« Nicht immer, klar, es gibt auch anspruchsvolle Professor:innen, die wahrlich nicht daran interessiert sind, allen die Bestnote zu geben. Und dennoch scheint es hier im Interesse vieler zu sein, dass die Studierenden sehr gute Noten haben – eine Uni mit guten Abschlussnoten lockt nun mal mehr zahlende Studierende an.

Campus der University of Denver: Vieles ist gewöhnungsbedürftig, einiges kurios

Campus der University of Denver: Vieles ist gewöhnungsbedürftig, einiges kurios

Foto: Isolde Sellin

9. Awareness

Schon bevor ich in den USA ankam, war ich in E-Mail-Kontakt mit Angestellten und Lehrenden der University of Denver. In ihren E-Mail-Signaturen fielen mir zwei Dinge auf: Erstens gaben alle ihre Pronomen an, um mitzuteilen, welcher Geschlechtsidentität man angehört und wie man in dieser angesprochen werden möchte. Und zweitens stand dort fast immer ein- und derselbe Satz: »Ich erkenne die Cheyenne und Arapaho als die ursprünglichen Verwalter des Landes an, auf dem sich die University of Denver befindet, und ehre sie als solche.«

Ob Genderidentitäten oder die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte der USA und den indigenen Völkern, die seit Jahrtausenden in der Gegend leben – der »Kulturkampf«, wie ihn viele US-amerikanische Republikaner:innen ausrufen, scheint hier entschieden, oberflächlich zumindest. Politisch korrekt und »woke« zu sein, gehört zum guten Ton. Doch auch diese Fassade bröckelt, wenn man sich tatsächlich mit indigenen Studierenden oder Professor:innen unterhält.

John Evans, einer der Gründer der University of Denver, etwa war politisch mitverantwortlich für das Sand Creek Massaker, bei dem 1864 etwa 230 Native Americans ermordet wurden. Das wurde zwar in einem Bericht aufgearbeitet , doch von einer wirklichen Distanz der Universität zu ihrem Gründer ist wenig zu spüren. Gleiches gilt für die Bezeichnung der Athlet:innen der Uni. Sie sind die »Pioneers« – ein Begriff, der auch für Siedler:innen im Kontext des Kolonialismus verwendet wird und für Kritiker:innen ein Symbol der Gewalt an Native Americans ist.


10. Ich fühle mich alt

Während ich an der Uni Tübingen immer eine der Jüngsten war, mache ich in den USA zum ersten Mal die Erfahrung, zu den Ältesten zu gehören. Das liegt nicht nur daran, dass Erstsemester hier sehr viel jünger sind als in Deutschland (siehe Punkt 3), sondern auch daran, dass die Studierenden hier meist in der Regelstudienzeit studieren (müssen). Sie können sich schlicht nicht leisten, ihr Studium zu verlängern (siehe Punkt 1).

Aber ich fühle mich nicht nur zum ersten Mal alt. Zum ersten Mal lebe ich auch an einem Ort, der mir meine eigene Herkunft, mein eigenes Fremd- und Deutschsein vor Augen führt. Noch immer ist für mich so vieles eigenartig, neu, teils auch absurd. Egal wie sehr ich meinen Alltag hier lebe, als alltäglich werde ich ihn nie wahrnehmen.

Ich bin nicht in meiner eigenen Version von »Pitch Perfect« gelandet. Sondern in meiner eigenen Realityshow, die für mich als Protagonistin und Zuschauerin nicht besser hätte geschrieben werden können.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, »Pioneers« sei eine militärische Truppengattung, gemeint sind in diesem Fall jedoch Siedler:innen im Kontext des Kolonialismus. Wir haben dies entsprechend korrigiert.