6:1 gegen die Türkei :
Wird Österreich das Überraschungsteam der EM?

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Zug zum Tor: Michael Gregoritsch
Nicht nur das Torspektakel gegen die Türkei zeigt: Die Österreicher haben die Qualität, bei der EM in Deutschland weit zu kommen. Das hat viel mit ihrem deutschen Trainer zu tun.

Im Wiener Prater war am Dienstagabend eine Fußballpartie zu betrachten, die als halbes Auswärtsspiel begann und als reines Heimspiel endete. Zwischen diesen beiden Polen lagen sechs Tore für das österreichische Nationalteam und eines für das türkische. Darunter drei Elfmeter und ein aberkanntes Tor durch Videobeweis, allerlei emotionale Scharmützel und drei Treffer eines Spielers aus der deutschen Bundesliga.

Rund 125.000 türkische Staatsangehörige leben in Österreich, mindestens noch einmal so viele Österreicher dürften türkische Wurzeln haben. Es war zu erwarten, dass viele von ihnen die Gelegenheit nutzen würden, das Team aus dem Land ihrer Väter spielen zu sehen – ein Team wohlgemerkt, in dem ebenfalls ein großer Teil in der Diaspora Fußballspielen gelernt hat. Wie etwa der Mannheimer Hakan Calhanoglu, der die Türken als Kapitän anführte. Er war es, der nach 25 Minuten mit einem Elfmetertor zum 1:1 die Hoffnung der Anhänger nährte, dass ein ähnlicher Coup gelingen könnte wie beim Sieg über Deutschland im November in Berlin.

In dieser Phase des Spiels dominierten nicht nur die Gäste auf dem Platz, sondern übernahmen auch ihre Anhänger auf den Rängen die stimmliche Hoheit. „Türkiye, Türkiye“, schallte es bis unters Dach. Und in der Kurve, die mit roten Türkei-Fahnen geschmückt war, leuchtete ein Lichtermeer aus Tausenden Handys. Es war nur ein „freundschaftliches Länderspiel“, wie der Stadionsprecher sagte, aber es wurde von beiden mit Entschlossenheit geführt. Man wollte wissen, wo man steht knapp ein Vierteljahr vor der Europameisterschaft, für die sich sowohl Österreicher als auch Türken souverän qualifiziert haben.

„Wenn du die kicken lässt, hast du Probleme“

Nach dem Spiel dürfen sich vor allem die Österreicher Hoffnungen machen. Trainer Ralf Rangnick, eigentlich kein Freund des Überschwangs, lobte die „extrem starke Mannschaftsleistung“, die zweite Hälfte sei „nahezu perfekt“ gewesen. Dabei hatte er nicht übersehen, dass sein Team in der ersten Halbzeit einige Male in Schwierigkeiten geraten war. Die Türkei habe gute Fußballer und schnelle Angreifer, sagte Rangnick; nicht zufällig hätten sie Deutschland geschlagen. „Wenn du die kicken lässt, hast du Probleme.“

Doch Rangnicks Spieler löste diese Probleme mit dem Mittel, das der Schwabe ihnen eingeimpft hat, seit er vor rund zwei Jahren das Team übernommen hat: Rennen, Drücken, dem Gegner auf den Füßen stehen, schon wenn er versucht, sein Spiel von hinten heraus aufzubauen. Nicht von ungefähr entstanden fast alle österreichischen Tore an diesem Abend aus Situationen, in denen der Ball schon in der Nähe des gegnerischen Strafraums erobert wurde. „Pressing-Tore“, nannte sie Rangnick zufrieden. Als früher Perfektionist des Pressings galt übrigens der Österreicher Ernst Happel, einst ein lustiger Verteidiger und grantiger Erfolgstrainer, nach dem das Stadion benannt ist.

Bei all dem muss man auch sagen: Es passte für Österreich auch auf eine glückliche Weise alles zusammen. Sie waren gnadenlos effizient. Und Schiedsrichter Daniele Chiffi tolerierte eine italienische Robustheit, die eher eine Spielweise begünstigte, die auf Balleroberungen à la Xaver Schlager, Nikolas Seiwald oder Konrad Laimer beruht, als eine solche, die mit feinen Pässen Calhanoglus auf schnelle Spitzen ans Ziel kommen will.

Christoph Baumgartner war im vorigen Spiel der Österreicher der Mann des Abends gewesen. Am Freitag hatte ja nicht nur Florian Wirtz für Deutschland gegen Frankreich ein Blitztor geschossen, sondern wenige Stunden zuvor Baumgartner gegen die Slowakei ein noch schnelleres. Sein Sololauf mit Treffer nur sieben Sekunden nach dem Anstoß soll ein Länderspiel-Weltrekord gewesen sein. Am Dienstag stand Baumgartner aber im Schatten von Michael Gregoritsch. Kurz vor der Pause traf der Freiburg-Profi mit Links zum 2:1, kurz nach dem Wechsel per Kopf zum 3:1. Und da beide Male Torwart Ugurcan Cakir noch mit der Hand dran war, gehörte das ebenso zum österreichischen Spielglück wie die beiden Elfmeterentscheidungen nach Videostudium in Halbzeit zwei. Einen Strafstoß nutzte Gregoritsch, den anderen überließ er großzügig seinem Kumpel Baumgartner.

Die türkischen Spieler reagierten ihre Frustration auf unterschiedliche Weise ab: Einerseits durch Handgemenge, die Verwarnungen nach sich zogen, andererseits durch fruchtlose Lupfer und Fallrückzieher. Das 6:1 durch eine Kombination der Einwechselspieler Patrick Wimmer und Maximilian Entrup war die Konsequenz. Da wehte längst ein kühler Wind durch die anfangs von türkischen Fans so dicht besetzten Reihen auf den Tribünen.

Bei allen Relativierungen und Mahnungen nicht zuletzt der Österreicher selbst: Das war der fünfte Sieg in Serie, von den letzten 14 Spielen haben sie nur eines verloren. Und dabei mussten sie jetzt ihre namhaftesten Spieler ersetzen, David Alaba (Knie-Verletzung), Marko Arnautovic (Muskel-Verletzung) und Marcel Sabitzer (Grippe). Es war nicht nur Selbstschutz, wenn die Trainer beider Gegner dieser Länderspielwoche unisono sagten: Diese Mannschaft könnte das Überraschungsteam bei der EM im Sommer werden.