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Einigung: Sozialtarifvertrag statt unbefristeter Streik bei Conti-Tochter Vitesco in Bebra

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Das Werk von Vitesco in Bebra.
Soll für die Elektromobilität fit gemacht werden: Die Continental-Tochter Vitesco mit ihrem Standort in Bebra. © Paul Bröker

Es waren heftige und lange Verhandlungstage, und es wurde von beiden Seiten erbittert gerungen – doch im Ergebnis hat es sich gelohnt.

Bebra/ Mühlhausen – Mit dem im neuen Sozialtarifvertrag gefundenen Kompromiss bei der Conti-Tochter Vitesco scheinen sowohl die Arbeitgeberseite als auch die Gewerkschaft IG Metall sowie Betriebsrat und Belegschaft zufrieden zu sein.

„Wir haben eine Lösung gefunden, für die beide Seiten Zugeständnisse gemacht haben“, berichtet Johann Kasimir, seit Oktober 2020 freigestellter Betriebsrat bei Vitesco am Standort Bebra. In den vergangenen beiden Tagen habe man das Verhandlungsergebnis den Mitarbeitern bei Betriebsversammlungen in Mühlhausen und Bebra vorgestellt. „Jetzt wird darüber abgestimmt, ob es angenommen wird – jedes Gewerkschaftsmitglied hat eine Stimme“, erklärt Kasimir.

Die Stimmung in der Belegschaft beschreibt der 36-jährige Bad Hersfelder so: „Meiner Einschätzung nach sind nun alle zufrieden und glücklich, dass der Konflikt jetzt erst mal gelöst ist.“ Und der wurde mit harten Bandagen ausgetragen. Ging es doch um nicht weniger als die Existenz des Standorts Bebra mit derzeit gut 800 Arbeitnehmern und seiner verlängerten Werkbank im 70 Kilometer entfernten Mühlhausen, wo weitere 150 Mitarbeiter beschäftigt sind.

Denn in der Ausgangslage sahen die Konzern-Pläne deutlich härter aus: Die Fertigung in Mühlhausen als Betriebsteil des Standorts Bebra sollte bereits 2022 geschlossen werden – nun wurde Ende 2024 ausgehandelt – und auch der von der Gewerkschaft als „Kahlschlag“ kritisierte Abbau an Arbeitsplätzen fällt mit 100 Stellen weniger als geplant nun deutlich geringer aus.

200 Stellen werden allerdings laut IG Metall abgebaut – dies soll aber weitgehend über Altersteilzeit und eine vorübergehende Arbeitszeitabsenkung mit Teilentgeltausgleich gestaltet werden. Der Sozialplan sieht laut Gewerkschaft zudem Abfindungen von bis zu 180.000 Euro pro Person vor.

Mit mehreren Warnstreiks hatte die Belegschaft ihre Kampfbereitschaft zuvor deutlich gemacht – unsere Zeitung berichtete. „Aber erst unsere Bereitschaft, in den unbefristeten Streik zu gehen, hat das Unternehmen in letzter Minute zur Vernunft gebracht“, sagte der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Nordhessen, Oliver Dietzel.

„Wir sind der erste Standort überhaupt in der IG Metall Nordhessen, der bis zur Urabstimmung gehen wollte – mit einer gewissen Angst, aber dem Mut, zu kämpfen“, sagt Kasimir. Statt zu spalten habe der Arbeitskampf die Belegschaft enorm zusammengeschweißt.

„Aber auch wir mussten Zugeständnisse machen“, berichtet der Betriebsrat. Abhängig von den Umsatzzahlen könne es durch die Reduzierung der Arbeitszeit zu möglichen Lohnanpassungen für die Beschäftigten kommen.

Damit dieser Fall möglichst nicht eintritt, soll das Werk in Bebra nun konsequent auf Elektromobilität ausgerichtet werden. Bislang lag der Anteil von Verbrennertechnik in Bebra bei bis zu 75 Prozent – in Mühlhausen sind es sogar 100. Die kommenden vier Jahre sollen nun genutzt werden, um das Werk in Bebra auf E-Mobilität umzustellen und zum europäischen Standort für Bauteile der Antriebstechnik – bürstenlose Gleichstrommotoren und die sogenannte Aktuatoren-Technologie – zu machen.

Die Abstimmung, ob der ausgehandelte Sozialtarifvertrag angenommen wird, soll am Freitagvormittag ausgezählt sein. Dann wird auch feststehen, ob das Mittel des Streiks endgültig vom Tisch ist, erklärt die Tarifkommission der IG Metall, die einstimmig die Annahme des Verhandlungsergebnisses empfohlen hat. „Ich hoffe auf annähernd 100 Prozent“, sagt auch Betriebsrat Johann Kasimir. Damit werde bei Vitesco in Bebra dann hoffentlich endlich wieder Ruhe einkehren.

Stellungnahme des Unternehmens

„Um seine Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit nachhaltig zu sichern, hat das Unternehmen Vitesco Technologies im August 2019 die notwendigen strategischen Weichen gestellt und das Unternehmen ganz klar auf Elektrifizierung und E-Mobilität ausgerichtet“, sagt Unternehmens-Sprecherin Emerenz Magerl-Ziegler auf Anfrage unserer Zeitung.

Eine daraus resultierende Maßnahme sei der sukzessive Rückzug aus dem Hydraulikgeschäft (Pumpen und Injektoren). Darüber hinaus werde das Geschäft mit Komponenten zur Kraftstoffförderung und das Katalysatoren-Geschäft überprüft. Hauptgründe dafür seien der intensive Preisdruck sowie die hohe Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung des Marktes für Dieselmotoren. „Die geplanten Maßnahmen sind notwendig, um Vitesco Technologies zukunftssicher zu machen – dass der Bedarf an reinen Verbrennungskomponenten sinkt, hat natürlich auch Folgen für unser Geschäft“, erklärt die Vitesco-Sprecherin.

Das Unternehmen prüfe unter diesen Rahmenbedingungen – der Marktentwicklung, dem Preisdruck und der Transformation vom Verbrenner in Richtung E-Mobilität – individuell und standortbezogen derzeit alle möglichen Optionen, Standorte zu halten, sie profitabel und wettbewerbsfähig zu machen und ein zukunftsfähiges, profitables Portfolio zu ermöglichen. Als Kompetenzzentrum für bürstenlose Gleichstrommotoren (Brushless DC Motor) habe Bebra Produkte im Portfolio, die auch bei Fahrzeugen mit elektrifiziertem Antrieb für anspruchsvolle Anwendungen unverzichtbar seien. „Bürstenlose Gleichstrommotoren werden in vielen verschiedenen Fahrzeugbereichen eingesetzt, von Kupplungskomponenten bis hin zu Bremssystemen“, sagt Magerl-Ziegler. Darüber hinaus beinhalte das breite Produktspektrum des Standorts unter anderem Kraftstoffpumpen, Wasserpumpen, Drosselklappen und Schaltmodule für Automatikgetriebe.

„Unser Ziel ist, Bebra als wichtigen Standort für Aktuatoren-Technologien im globalen Fertigungsverbund von Vitesco Technologies zukunftsfähig aufzustellen“, sagt Magerl-Ziegler. Mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit und Standortsicherheit zu erhöhen, sei bereits ein gemeinsames Cluster mit dem Vitesco-Technologies-Standort Dortmund gebildet worden. Um Kosten zu sparen und Synergien zu schaffen, habe das Unternehmen dort die Managementstrukturen verschlankt und wichtige Kompetenzen zusammengefasst.

Obgleich die entsprechende Vereinbarung mit dem Betriebsrat bereits auf einem konservativen Szenario basiere, werde sie den aktuellen Entwicklungen nicht mehr gerecht. „Aufgrund der weiter stark rückläufigen Absatzzahlen muss das Unternehmen weitere Restrukturierungsmaßnahmen ergreifen“, sagt die Sprecherin. In intensiven Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern habe man nun eine Einigung erzielt und eine für beide Seiten faire und vertretbare Lösung gefunden. „Damit das Unternehmen dort die erforderliche Auslastung und Profitabilität erreicht, mit dem Ziel, den Standort Bebra dauerhaft wettbewerbsfähig zu machen, müssen wir Synergien schaffen und Redundanzen vermeiden“, sagt Magerl-Ziegler. Dazu würden sämtliche operativen Aktivitäten am Standort Mühlhausen bis zum 31. Dezember 2024 auslaufen beziehungsweise sukzessive von Mühlhausen nach Bebra transferiert. Bis zum Jahr 2025 werde die Belegschaft den Umsatzerwartungen im Bereich der Verbrenner-Technologien angepasst. Neben der natürlichen Fluktuation werde die entsprechende Betriebsänderung von einem Tarifsozialplan begleitet: An beiden Standorten würden nun Arbeitsgruppen gebildet, um Perspektiven für die von Veränderungen betroffenen Mitarbeiter innerhalb und außerhalb des Unternehmens zu erarbeiten.

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