ZDF-Film „Winterherz“ : Wie vergibt man seinen Schuldigern?
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Sie haben Schuld auf sich geladen: Maxim (Franz Pätzold) und Sylvie (Laura de Boer). Bild: ZDF und Barbara Bauriedl
Und wie sich selbst? Das Requiem „Winterherz“ im ZDF zeigt ergreifend, wie nach einem tragischen Verlust Schuldgefühle, Verzweiflung und Rachedurst miteinander ringen.
Es gibt Momente, in denen friert das Leben ein. Alle Farben weichen aus den Dingen. Wo Appetit war, ist nur noch Übelkeit; wo Pläne waren, bleiben bestenfalls Routinen. Im Kopf rotiert das eine, betäubende Wort „Nein“, zersäbelt messerscharf alle Gedanken. Dass der tragische Tod des jungen Finn (Jeremias Meyer) einfach nicht wahr sein darf, diesen hilflosen letzten Versuch der Realitätsverweigerung nimmt man den exzellenten Darstellern gänzlich ab, Ulrike Kriener und Bernhard Schütz, die die verzweifelten Eltern spielen, ebenso wie Anton Spieker, der Finns großen Polizisten-Bruder Mike gibt. Dieser macht sich schwere Vorwürfe, weil er einer Affäre wegen den noch nicht Volljährigen sturzbetrunken und mit etwas Taxigeld auf einer Party zurückgelassen hat.
Einen nächtlichen Anruf nahm Mike, mit angenehmeren Dingen beschäftigt, nicht mehr entgegen. Den Weg nach Hause trat der Bruder dann aber nicht mit dem Taxi an, sondern stapfte, irgendwo in der menschenleeren Provinz bei Augsburg, zu Fuß durch den Schnee. Er sei, erfährt die Familie am nächsten Tag, an einer Bushaltestelle erfroren. Tatsächlich wirkt die farblose Winterlandschaft, wie Regisseur Johannes Fabrick sie inszeniert, erbarmungslos kalt und lebensfeindlich.
Das mit kleinen Abstrichen lebensnahe, konzise Drehbuch von Susanne Schneider lässt uns freilich bereits mehr wissen als die Protagonisten, haben wir doch gesehen, wie der schnöselige Jungjurist Maxim (Franz Pätzold) den ihm vor den Wagen getorkelten Jungen angefahren hat. Trotz der Bitten seiner Frau Sylvie (Laura de Boer) hat Maxim keinen Krankenwagen gerufen - alkoholisiert am Steuer hätte der Unfall seiner Karriere schaden können -, sondern den äußerlich unverletzt Wirkenden an einer Bushaltestelle abgesetzt. Gestorben ist Finn, das wird auch den Angehörigen bald mitgeteilt, an den Unfallfolgen. Sylvie scheint von Maxims Spießigkeit und Chefattitüde zwar von der ersten Szene an angewidert zu sein, jetzt aber gerät die Beziehung in einen Strudel aus Schuldgefühlen, Vorwürfen und Verleugnung. Hätte die Autorin den Juristen nicht gar so unsympathisch angelegt - das ist einer der Abstriche, ein anderer betrifft übertriebene Zufälle wie eine just am Sterbeort verlorene Kette -, wäre mit Komplizenschaft aus Zuneigung eine spannende weitere Dimension hinzugekommen. Auch so aber meldet Sylvie den Unfall nicht bei der Polizei, weil eine Frau ihrem Mann eben nicht schadet.
Allerdings leidet sie unter dem Vorgefallenen kaum weniger als Mike, den sie am Grab des Toten kennenlernt. Die beiden stürzen förmlich ineinander, richten sich emotional aneinander auf, greifen im Verlangen nach Erlösung nach dem naheliegenden Ventil und ziehen einander so noch tiefer in die Düsternis. Alle haben Fehler gemacht, verzeihliche zumeist, aber im Ergebnis fatale. Dass niemand die Verantwortung dafür übernimmt, dass es eine Schuld gibt, aber keine Sühne, beherrscht bald das gesamte Denken der Angehörigen des Toten, die sich nach „Gerechtigkeit“ sehnen, wobei auch ein Rachewunsch mitschwingt: „Der wird dafür büßen.“ Sylvie wiederum, an Unterordnung gewohnt, hält sich mit Anklagen zurück und bietet sich gewissermaßen selbst als Sühneopfer an. Da betritt der Film behutsam religiöses Terrain. Wie vergibt man seinen Schuldigern? Und wie sich selbst?
Stark ist nicht nur Laura de Boers zitternd ergreifendes Schauspiel, sondern auch die klare, zielstrebige Dramaturgie, die dann doch damit zu überraschen weiß, wem zu welchem Zeitpunkt welche Eröffnungen gemacht werden. Gelungen ist es zudem, die Beziehung von Sylvie und Mike so ambivalent zu gestalten, dass wir nur ahnen können, was daran Anziehung und Begierde ist, was Trauer und Verzweiflung, was Verdacht und Kalkül. Dass Mike auch als Polizist agiert, liegt auf der Hand, aber in welche Richtung dieses Motiv sich entwickelt, bleibt auf glaubhafte Weise lange offen. Erst im Finale zieht die bis dahin selbst wie schmerzbetäubt wirkende Handlung so kräftig an, dass der Schwebezustand zerrissen wird. Im Ringen um Erlösung stehen nun nur noch zwei Wege offen, der alt- und der neutestamentarische sozusagen, aber natürlich führt keiner davon zurück ins Glück. Da haben wir, mitten im Heute, den Kernkonflikt der klassischen Tragödie.
Fabrick, auf kammerspielartige Leidensprüfungen zwischen Trauma und Selbstvorwürfen spezialisiert, ist einer der sensibelsten und unaufdringlichsten Seelenkundler im deutschen Fernsehen. Vor schweren Stoffen schreckt er schon deshalb nicht zurück, weil sich in ihnen der ganze Mensch zeigt. Bewähren müssen seine Figuren sich im Miteinander. In „Ein langer Abschied“ geraten Beziehungsprobleme und das langsame Sterben eines Kindes in einen schiefen Widerspruch; in „Der letzte schöne Tag“ bringt der Suizid einer depressiven Mutter eine Familie an den Rand des Zusammenbruchs; in „Zweimal lebenslänglich“ zerbricht eine Frau nahezu daran, dass ihr Mann als Mörder verurteilt wird, aber seine Unschuld beteuert. Weil Fabrick zugleich an das Schöne und Gute im Menschen glaubt, findet sich noch in seinen dunkelsten Geschichten ein Abglanz der Hoffnung. Mehr als ein Flackern ist das diesmal allerdings nicht. Wir sehen immerhin, dass keine Wut dagegen hilft, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Nicht nur Trauer ist Arbeit, auch Qualitätsfernsehen. Doch die Mühe lohnt.
Winterherz - Tod in einer kalten Nacht läuft heute, Montag, 2. Dezember, um 20.15 Uhr im ZDF.