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Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenDer Fotograf, der die Russinnen und Russen mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert

Der Fotograf, der die Russinnen und Russen mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert – und flüchten muss

Von Nora Seebach

Oleg Sidorenko traute sich was. Der russische Fotograf sendete am 10. Oktober eine E-Mail und unterschrieb sie mit Namen und Telefonnummer. Danach explodierte sein Handy fast vor lauter Nachrichten.

Sidorenko war fast acht Jahre lang Staatsangestellter. Für das Moskauer Stadtplanungsbüro fotografierte der 43-jährige die Fassaden von Gebäuden. Er ist mit einer Ukrainerin verheiratet und gehört nicht zu den Russen, die alles einfach so hinnehmen, oder gar Wladimir Putins Krieg blind unterstützen. Das unabhängige russische Newsportal «Mediazona» hat seine Geschichte recherchiert. Die Journalistinnen und Journalisten arbeiten im Ausland, nachdem am 6. März 2022 ihre Website in Russland gesperrt wurde.

«Ukrainerinnen und Ukrainer haben mir nichts angetan, ich habe nichts gegen sie», sagt Sidorenko, und deshalb habe es ihn auch sehr mitgenommen, als ein Arbeitskollege immer wieder Witze über den Krieg machte. Bis zu dem Punkt, als Sidorenko sogar seine Vorgesetzten informierte, mit Tränen in den Augen. Doch nichts geschah.

Den Gedanken, Russland zu verlassen, fasste er schon vor einer ganzen Weile, blieb jedoch. Im September plante er mit seiner Frau Ferien in Frankreich. Sie erhielten kein Visum.

Als Putin im September die Teilmobilisierung verkündete, verfolgte Sidorenko mit Staunen die Kundgebung zur Unterstützung der Mobilisierung. Mittendrin seine Arbeitskolleginnen und -kollegen, die Selfies davon posteten. Sidorenko sagt, sie hätten dort anwesend sein und der Geschäftsleitung einen Beweis vorlegen müssen.

In seiner Wut darüber hat der Fotograf mutmasslich an Zehntausende Menschen in der Moskauer Verwaltung eine E-Mail geschrieben, in der er an die russische Zivilcourage appelliert. Nachfolgend ein Auszug aus seinem in «Mediazona» publizierten Mahnruf:

Ich schreibe dies, weil es nicht länger möglich ist, zu dem, was in Russland geschieht, zu schweigen. Es ist unmöglich, sich anzusehen, was die verlogene Regierung aus unserem schönen Land und unserer Stadt gemacht hat. Es ist unmöglich, diesen abscheulichen und verbrecherischen Krieg gegen unsere Nachbarn, die Ukrainer, weiter mitanzusehen.

Ein Krieg, der Tausende von Menschen aus der Ukraine und Russland das Leben gekostet hat. Ein Krieg für die Interessen unseres verrückten Präsidenten und seines Gefolges. Ein Krieg, aus dem Tausende unserer Kinder, Ehemänner, Väter und Brüder nicht mehr zurückkehren werden.

Er forderte die Landsleute auf, ihre Jobs zu kündigen oder das Land zu verlassen.

Habt keine Angst, aufzustehen und eure Meinung zu sagen, wenn ihr etwas zu sagen habt. Lasst es euch nicht gefallen und lasst euch nicht zum Narren halten (...) Wehrt euch mit allen Mitteln gegen die kriminellen Befehle unserer Führung. Und die Gerechtigkeit wird sicher siegen.

Für Sidorenko fühlt sich diese E-Mail an wie «der russischen Botschaft beim Vorbeilaufen den Stinkefinger zeigen», wie er gegenüber «Mediazona» sagt. Doch er will auch, dass seine E-Mail dazu beiträgt, dass die Staatsangestellten «wissen, was vor sich geht, und darüber nachdenken».

Er sagt, er habe über vier Stunden lang zusammen mit seiner Frau um drei Uhr morgens von Hand Adressen hinzugefügt, bis er gesperrt wurde.

Die Reaktionen seien hauptsächlich positiv ausgefallen:

«Oleg, du bist sehr mutig! Ich unterstütze dich! Du bist ein toller Typ!»

«Ach, verpiss dich!»

«Jeden Tag bin ich mehr und mehr desillusioniert von den Menschen, doch deine E-Mail ermutigt mich.»

«Ich habe Ihre E-Mail auf der Arbeit erhalten. Haben Sie eine Art Widerstandsnetz?»

Am 10. Oktober um 7.10 Uhr morgens konnte Sidorenko keine weiteren Massen-E-Mails mehr versenden. Sein Chef rief ihn an, und all seine Zugänge wurden blockiert. Um 9.30 Uhr morgens war die Polizei an seinem Arbeitsplatz in Moskau.

Doch Oleg Sidorenko und seine ukrainische Frau sind nicht mehr in Russland. Am 23. September, drei Tage nachdem Putin die Teilmobilisierung angekündigt hatte, reisten sie aus. In welchem Land sie sich befinden, sagt der Fotograf nicht.

Wanted – wegen hundertfachen Mords

Von Zita Affentranger

100’000 Dollar hat die Ukraine auf den Kopf des russischen Nationalisten und Freischärlers Igor Girkin ausgesetzt, der sich selber Strelkow, den Schützen, nennt. Innerhalb weniger Stunden war die Summe zusammen: Blogger, Sportler, aber auch der Gouverneur der Region Donezk, Serhi Hajdaj, haben aus ihrem persönlichen Vermögen Zehntausende Dollar spendiert für die Ergreifung Girkins. Und auf Twitter häufen sich die Anfragen, wie man sich an dem Kopfgeld beteiligen könne. «Ich bin kein reicher Mann», schreibt einer von ihnen, «aber es gibt viele Leute wie mich, die gerne etwas beitragen würden.»

Fahndungsplakat mit Igor Girkin.

Der Hass kommt nicht von ungefähr, der Russe ist für die Ukrainer nicht irgendein Feind. Girkin brüstet sich damit, dass es ohne ihn in der Ostukraine nie zu einem Krieg gekommen wäre. 2014 war er «Verteidigungsminister» der sogenannten Volksrepublik Donezk, einem schmalen Streifen der ukrainischen Region, wo von Russland gesteuerte Aufständische die Macht an sich gerissen hatten. Dabei wird er persönlich für Hunderte Morde verantwortlich gemacht. Girkin hat mehrere Exekutionen angeordnet, das belegen Dokumente, und laut eigenen Angaben hat er auch mindestens einmal selber geschossen.

Doch bei seinem grössten Verbrechen geht es um ganz andere Dimensionen: Girkin gilt als einer der Hauptverantwortlichen für den Abschuss eines Passagierflugzeugs über der Ukraine 2014. Damals gelang es den Rebellen, mehrere ukrainische Kampfjets abzuschiessen. Girkin und seine mitangeklagten Helfer sollen laut der internationalen Untersuchungsbehörde ein Raketensystem von Russland über die Grenze in die Ukraine gebracht haben. Damit trafen sie im Juli 2014 eine Boeing der Malaysia Airlines mit 298 Menschen an Bord. Es gab keine Überlebenden.

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Einer der Spender des Kopfgeldes postete das Abschiedsbild Girkins mit seiner Frau.

Kurz danach wurde Girkin abgesetzt und kritisierte seither den Kreml bitter. Er schimpfte Präsident Wladimir Putin einen Intriganten, der einem mafiösen System vorstehe. Vom Überfall Moskaus auf die Ukraine erhoffte er sich wohl die Erfüllung seiner Träume: den faktischen Anschluss der Ukraine an Russland. Doch Putin stellte es in seinen Augen ganz falsch an, der Kreml zeige nicht genug Härte, kritisierte er. Das Ganze werde mit einer «vollständigen Niederlage Russlands» enden, klagte er. «Wir haben schon verloren, es ist nur eine Frage der Zeit.»

Deshalb will er nun offensichtlich selber das Steuer in die Hand nehmen. Er werde gewinnen, er wisse, was zu tun sei, erklärte Girkin. Seine Frau postete ein Bild mit ihrem uniformierten Mann vor der Abreise an die Front. Nachdem er das sichere Moskau Richtung Ukraine verlassen hat, hofft man in Kiew nun, den Mann zu erwischen, der so vielen Menschen so viel Leid gebracht hat. Und die Chancen stehen nicht schlecht: Girkin will in Cherson im Süden der Ukraine kämpfen, wo Kiews Soldaten jeden Tag weiter vorrücken.

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Hat Elon Musk mit Putin gesprochen?

Von Simon Widmer

Wer Raketen in den Himmel schiessen lässt und Elektroautos entwickelt, taugt auch als Spitzendiplomat. So oder ähnlich muss sich das der Unternehmer Elon Musk gedacht haben. Der Tesla- und SpaceX-Chef hat es sich zum Hobby gemacht, über einen möglichen Frieden zwischen Russland und der Ukraine nachzudenken.

Doch natürlich ist Musk kein Diplomat. Seine Gedanken formuliert er nicht in Geheimgesprächen, sondern öffentlich. Auf der Nachrichtenplattform Twitter lässt er die ganze Welt an seinen geopolitischen Überlegungen teilhaben.

Bereits stellte er einen konkreten Friedensplan vor, der im Wesentlichen die Forderungen des russischen Präsidenten Wladimir Putins erfüllt: Unter anderem solle sich Kiew zur militärischen Neutralität verpflichten und die Krim formal als Teil Russlands anerkennen.

Jetzt stellt sich die Frage, wie tief der reichste Mann der Welt tatsächlich mit dem Kreml verbandelt ist. Der US-Politikwissenschaftler Ian Bremmer behauptet in seinem Newsletter, Musk habe direkt mit Wladimir Putin über den Krieg in der Ukraine und den vorgeschlagenen Friedensplan gesprochen. Musk selber habe ihm das erzählt, so Bremmer.

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Bremmer wollte sich zunächst nicht weiter zu seinem Gespräch mit Musk äussern, konnte es dann aber doch nicht lassen: «Elon Musk sagte mir, er habe mit Putin und dem Kreml direkt über die Ukraine gesprochen. Er sagte mir auch, was die roten Linien des Kremls sind», schrieb Bremmer. «Niemand sollte Bremmer vertrauen», antwortete Musk lapidar.

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Musk oder Bremmer: einer lügt also. Der US-Politikwissenschaftler Bremmer leitet den renommierten Thinktank Eurasia Group. Er twittert mit hoher Frequenz, wobei sich nicht alle seine Tweets als wahr erwiesen. Im März 2020 behauptete er, der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro sei positiv auf Covid getestet worden, was falsch war (Bolsonaro sollte sich im Juli 2020 noch anstecken). Allerdings ist schwer vorstellbar, dass Bremmer das Gespräch mit Musk für seinen Newsletter einfach erfunden hat.

Bei Elon Musk gibt es zwei vorstellbare Szenarien: Er könnte entweder gar nicht mit Putin gesprochen haben und hat Bremmer angelogen. Oder aber er hat mit Putin gesprochen, Bremmer dies mitgeteilt – und jetzt einen Rückzieher gemacht.

Nach aktuellem Stand muss die Frage offen bleiben, wer die Wahrheit sagt. Klar ist hingegen, dass der selbsternannte Friedensstifter Elon Musk sämtliche Sympathien in der Ukraine verspielt hat. Zu Kriegsbeginn sah das noch ganz anders aus. Nachdem er eine Reihe seiner Starlink-Internet-Terminals in das Land transportieren liess, wurde er gar vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zu einem Besuch eingeladen.

Zuletzt hat sich Elon Musk nicht mehr über seine Vermittlerpläne geäussert. Dafür preist er euphorisch sein neuestes Projekt an: Er hat ein Parfum entwickelt.

Sie singen gegen die Angst in der U-Bahn-Station – so reagieren Ukrainerinnen und Ukrainer auf den Beschuss

Von Nora Seebach

Die Zerstörung ist gross. Mindestens 19 Menschen sind tot. Über 100 sind laut dem Rettungsdienst des Landes verletzt.

Russland attackierte am Montag laut Angaben des ukrainischen Generalstabs und des Militärgeheimdienstes mit 84 Raketen und 24 Drohnen zwanzig ukrainische Städte, darunter Kiew, Lwiw und Dnipro. Getroffen hätten sie 70 Ziele: 29 kritische Infrastrukturen – wie zum Beispiel Elektrizitätswerke, vier Hochhäuser, 35 Wohnhäuser und eine Schule.

Ein zerstörtes Hochhaus in Kiew.

Luftangriffe in Stadtzentren, vor allem zu Stosszeiten, sind ein Kriegsmittel, das das gegnerische Volk zermürben soll. Es könnte sich ausserdem nach erster Einschätzung des UNO-Gremiums für Menschenrechte um ein Kriegsverbrechen handeln. Denn gezielt Zivilistinnen und Zivilisten oder überlebensnotwendige Infrastruktur wie Kraftwerke zu beschiessen, sei nach internationalem humanitärem Recht verboten, sagte OHCHR-Sprecherin Ravina Shamdasani am Dienstag in Genf. «Die Orte und die Uhrzeit der Angriffe – als die Menschen zur Arbeit gingen oder Kinder zur Schule brachten – sind besonders schockierend.»

Doch wie reagieren die Menschen in den ukrainischen Städten auf die Angriffe? Fünf Szenen werden im Nachfolgenden vorgestellt.

Flucht Richtung Westen

Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Filippo Grandi, befürchtete am Montag, dass wegen der Bombardierungen noch mehr Menschen flüchten werden. Seit Kriegsbeginn im Februar sind schon über 7,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer geflüchtet.

Am Dienstagmorgen machte auf den sozialen Medien ein Video die Runde, das Autos im Stau vor Kiew und somit die Flucht aus der Stadt zeigen soll. Es konnte jedoch noch nicht verifiziert werden.

In der Kiewer U-Bahn wird gesungen

Während über ihnen die Bomben einschlugen, suchten Menschen in den Kiewer U-Bahnhöfen Schutz. Die First Lady der Ukraine postete ein Video auf Twitter, in dem wir sehen und hören sollen, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer dabei singen. Dazu schrieb Olena Selenski: «Sie versuchen, uns einzuschüchtern und zu brechen – aber die Ukrainerinnen und Ukrainer singen.»

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Auch ein anderes Video machte die Runde. Aufgenommen wurde es vom 26-jährigen Anton Paliuta, der drei Stunden lang mit seiner Freundin und vielen weiteren Menschen auf der Treppe in der Metrostation ausharrte.

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Gegenüber dem Newsportal «Kyiv Independent» sagte Paliuta, es habe ihn beruhigt, während so schwierigen Zeiten ukrainische Lieder zu hören. Zuerst hätten die Frauen und Kinder geweint und seien in Panik ausgebrochen. Doch als eine Gruppe Mädchen ein Lied anstimmte, hätten die Leute angefangen zu klatschen und mitzusingen.

Ein Paar küsst sich in einer Metrostation in Kiew.

In Lwiw stehen die Menschen für Wasser Schlange

Auch Lwiw, eine grössere Stadt an der polnischen Grenze, ganz im Westen der Ukraine, wurde schwer getroffen. Ein Raketenangriff hat die Elektrizitätsversorgung am Montag wie auch am Dienstag zum Teil lahmgelegt. Auch die Wasserversorgung wurde beeinträchtigt.

Ein amerikanischer Reporter, der für das «Wall Street Journal» berichtet, beobachtete eine eindrückliche Szene: «Ich habe einen Freund zu Hause in Lwiw besucht. Nach den russischen Angriffen von heute ist die halbe Stadt ohne Wasser, Strom und Internet. Als wir uns trennten, nahm er seelenruhig eine 5-Liter-Flasche in die Hand und ging ohne ein Wort nach draussen, um sich in die Schlange für Wasser einzureihen. Unklar, warum Putin immer noch glaubt, die Ukrainer würden einknicken.»

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Die Reparaturen haben schon begonnen

Die meisten Läden in Kiew sind laut Berichten am Dienstagmorgen immer noch geschlossen, die Sirenen erklingen auch immer wieder. Trotzdem haben sich die Bewohnerinnen und Arbeiter schon an den Wiederaufbau und die Reparatur von Kratern in Strassen und von zerborstenen Fenstern gemacht. Gewisse mehrere Meter tiefe Krater sollen schon geflickt sein. Die Ukraine will durch das schnelle Reparieren ihre Stärke und Resilienz beweisen.

Witali Klitschko, Kiews Bürgermeister, begutachtete noch am Montag die getroffene Fussgängerbrücke in Kiew – auch Klitschko-Brücke genannt – und hielt einen Schwatz mit den Arbeitern, die dort mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Am Schluss schwenkte der Bürgermeister die Kamera über das Stadtpanorama von Kiew, «seiner» Stadt.

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Der Präsident spricht eine Drohung aus

Selenski sagte am Montagabend in einer Ansprache, dass die «Besatzer» wegen Niederlagen auf dem Schlachtfeld zu solchen Massnahmen – er nennt es «Terrorismus» – gegriffen hätten. Doch die Ukraine werde «das Schlachtfeld für den Feind noch schmerzhafter machen» und «wieder aufbauen, was zerstört wurde».

Selenski hält Montagabend aus Kiew eine Rede.

Der Kampfgeist, der am Anfang der Invasion nicht nur Russland, sondern auch viele westliche Beobachterinnen erstaunte, scheint bei vielen Ukrainern ungebrochen. Und Putin durch die sozialen Medien zu vermitteln, dass er sie durch Raketenangriffe nicht zermürben kann, ist ein wichtiges Anliegen der Ukrainerinnen und Ukrainer.

Virales Video verifiziert: Junge Frau filmt Explosion neben Uni in Kiew

Von Boris Gygax, Adrian Panholzer und Nora Seebach

Am 229. Tag des Angriffes Russlands auf die Ukraine wurde Kiew ins Herz getroffen. Sofort werden die sozialen Medien mit Videos überflutet.

Vor allem ein eindrückliches Selfie-Video einer jungen Ukrainerin wird unzählige Male geteilt. Doch es werden auch Zweifel über die Echtheit der Aufnahme gesät. Redaktion Tamedia konnte das Video nun geolokalisieren und übersetzen.

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Montagmorgen, Hauptverkehrszeit. In Kiew waren die Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Schülerinnen auf dem Weg zur Uni und zur Schule. Plötzlich: Explosionen, Sirenen, Rauch.

Mittendrin: eine junge Frau, die sich selbst filmt und in die Kamera spricht. «Meine Hände zittern, weil ich gerade gesehen habe, wie eine Rakete über uns drüber fliegt. Ich habe sie auch gespürt», sagt die offensichtlich verängstigte junge Frau. Deshalb habe sie angefangen zu filmen. Dann explodiert plötzlich etwas in der Nähe, und sie wird von der Druckwelle erfasst. Man hört, wie Glas zersplittert. Sie ruft nach ihrer Mutter.

Im Video befinden sich mehrere Indizien, die Aufschluss darüber geben, wo es aufgenommen wurde – diese wurden von dieser Redaktion ausgewertet. (Siehe Video oben) Die junge Frau läuft mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit entlang des Universitätsgeländes der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew.

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Laut dem ukrainischen Kulturminister ist das Taras-Schewtschenko-Museum, das wie auch die Universität dem ukrainischen Nationaldichter gewidmet ist, beschädigt worden, ebenso wie das Khanenko-Kunstmuseum. Beide Orte befinden sich in unmittelbarer Nähe der Universität. Im August sagte er gegenüber dieser Zeitung, dass die Angriffe auf Kulturgüter gezielt seien: «Die Russen kämpfen gegen uns und unsere Kultur».

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Seit Juni gab es keine russischen Luftangriffe auf die Hauptstadt der Ukraine mehr. Doch heute wurden nach Angaben der ukrainischen Seite mindestens fünf Menschen in Kiew getötet und zwölf verletzt.

Selenski schreibt auf seinem Telegram-Kanal: «Die Luftangriff-Sirenen verstummen in der ganzen Ukraine nicht». Erst um 12.30 Uhr Lokalzeit wird in Kiew der Luftalarm aufgehoben.

Neben Kiew wurden unter anderem auch Dnipro, Lwiw, Charkiw und Saporischschja getroffen. Nach Angaben der ukrainischen Armee feuerte Russland insgesamt 75 Raketen auf die Ukraine ab, viele konnten aber abgefangen werden. Selenski sagte in einer Videobotschaft, die russischen Streitkräfte hätten vom Iran hergestellte Drohnen bei den Angriffen eingesetzt.

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Die Luftangriffe in verschiedenen Städten der Ukraine müssen als Vergeltung für den ukrainischen Angriff vom 8. Oktober auf Putins Krim-Brücke gelesen werden. (Lesen Sie hier mehr dazu) Sie dienen aber auch dem Zweck, die Bevölkerung zu demoralisieren. Der Kremlchef sagt, sie seien eine direkte Reaktion auf die «Terroranschläge» gegen russisches Gebiet.

General Sergei Surowikin ist vergangenes Wochenende zum neuen Befehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt worden. Laut dem unabhängigen russischen Newsportal «Meduza», das sich auf Kreml-Insider stützt, befürwortet Surowikin die Idee eines gross angelegten Raketenangriffs auf die ukrainische Infrastruktur, einschliesslich der zivilen.

«Bruder»? «Mörder»! In Belgrad tobt ein Kleinkrieg wegen eines Putin-Graffito

Von Enver Robelli

Die Njegos-Strasse im Zentrum von Belgrad ist schon vor einem Jahr in die Schlagzeilen internationaler Medien geraten. Damals wollten dort mehrere Aktivistinnen ein Graffito des verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladic entfernen. Dagegen protestierten glatzköpfige Ultranationalisten und Hooligans. Die Polizei blieb lange untätig. Als die Lage zu eskalieren drohte, nahmen Männer in Zivilkleidung die Aktivistinnen fest und übergaben sie der Polizei. So bizarr funktioniert mittlerweile die Vergangenheitsbewältigung in Serbien.

Unweit dieses Schauplatzes des rückwärtsgewandten Weltbilds lauert die nächste umstrittene Persönlichkeit. An der König-Milutin-Strasse haben prorussische Rechtsradikale ein Porträt Wladimir Putins auf eine Fassade gemalt. Das geschah Anfang März, kaum eine Woche nachdem der Kremlherrscher die Ukraine überfallen hatte. Neben das Porträt Putins kritzelten die Sprayer das Wort «Bruder». Am nächsten Tag hatten Unbekannte über das Wort «Bruder» mit roter Farbe «Mörder» geschrieben.

Unbekannte haben ein prorussisches Graffito übermalt.

Seither tobt in der serbischen Hauptstadt ein Kleinkrieg zwischen Putin-Freunden und Putin-Gegnern, wobei diese in Serbien deutlich in der Minderheit sind. Eine Umfrage ergab, dass 80 Prozent der Serbinnen und Serben Sanktionen gegen Russland ablehnen. Belgrad ist auch die einzige Hauptstadt in Europa, wo es Massenaufläufe für Putin gegeben hat.

Das übermalte Putin-Graffiti in Belgrad.

Doch die Kritiker lassen nicht locker. Dem Putin-Graffito wurde eine schwarze Brille verpasst, die den russischen Präsidenten als Mafiaboss erscheinen lässt. Aus seinen Augen fliesst Blut. Putins Anhänger bemühen sich nach Kräften, das Wandbild in den ursprünglichen Zustand zu bringen. Doch im Pingpongspiel liegen im Moment die Beschmierer klar in Führung gegen die Putin-Polierer. Seit dieser Woche prangen auf Putins Kopf die Schimpfwörter «Scheisse» und «Arschloch». Daneben steht auf Russisch der Aufruf «Nein zum Krieg», aus dem serbischen Wort «Bruder» (brat) ist «Krieg» (rat) geworden.

Darja Dugina, die Tochter des rechtsradikalen russischen Philosophen Alexander Dugin kam im August bei einem Attentat ums Leben.

Mit einem Graffito wird inzwischen in Belgrad auch Darja Dugina verherrlicht. Die Tochter des rechtsradikalen russischen Philosophen Alexander Dugin wurde im August in Moskau durch eine Autobombe getötet. Alexander Dugin besuchte 2018 Belgrad, um Nationalisten auf seinen antiwestlichen Kurs einzuschwören.

Auch Putin hat in den letzten zehn Jahren Belgrad mehrmals besucht. Dutzende serbische Städte haben ihn zum Ehrenbürger ernannt. Viel weiter gingen die Einwohner von Hadzinice: 2016 beschlossen sie, ihr Dorf nach Wladimir Putin zu benennen. Stolz wurde damals angekündigt, dass in Putinovo, so heisst das Kaff, auch Schnaps mit dem Namen «Putinovaca» gebrannt werden soll.

Angebliche Mobilmachung in Moldau: Gefälschtes Video der Präsidentin verbreitet

Von Sarah Buser

Moldau liegt an der Grenze zur Ukraine, die Hauptstadt Chisinau ist rund 400 Kilometer von Cherson entfernt. Seit Kriegsbeginn im Februar gab es bereits mehrere Bombenalarme.

Das Land in Kriegsnähe wurde vor kurzem Opfer einer russischen Falschnachricht über die Präsidentin. Auf Nachrichtendiensten ist am Montag, 3. Oktober, ein Deepfake der Präsidentin verbreitet worden.

Der kremlnahe Telegram-Kanal «Zvezdanews» veröffentlichte ein Video, in dem Präsidentin Maia Sandu ein Gespräch auf Englisch zu führen scheint, das ins Russische synchronisiert wird.

Im Video spricht sie von einer angeblichen Mobilmachung Moldaus. «Ich bin bereit, die Mobilisierung in Moldau zu erklären, und arbeite bereits eng mit Rumänien zusammen, um sich so effektiv zu verteidigen, wie es die Ressourcen erlauben würden.»

Mit Deepfake ist ein Foto oder Video gemeint, das durch Techniken so verändert wurde, dass es realistisch wirkt.

Wurde durch dieses Deepfake-Video Opfer der russischen Trolls: Präsidentin von Moldau, Maia Sandu.

Kurz darauf teilte das moldauische Verteidigungsministerium mit, «dass die in einigen russischen Medien aufgetauchten Informationen, wonach Staatspräsidentin Maia Sandu eine landesweite militärische Mobilisierung ankündigen will, falsch sind».

Moldau ist etwa ein Viertel kleiner als die Schweiz und teilt eine rund 800 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine.

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Gemäss der Nachrichtenagentur Reuters wohnen 200’000 Leute mit russischer und moldauischer Staatsbürgerschaft in der Region Transnistrien, einem separatistischen Gebiet Moldaus, das international nicht anerkannt wird als eigenes Land.

Staatspräsidentin Maia Sandu sorgt sich nun, dass einige Personen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft von Russland zum Kampf eingezogen werden könnten. Die vor rund zwei Wochen verkündete Teilmobilmachung in Russland am 21. September verstärkte dies. Am 26. September 2022 informierte sie, dass der oberste Sicherheitsrat des Landes eine Empfehlung ausgesprochen habe, Staatsangehörigen, die auf russischer Seite im Ukraine-Krieg kämpften, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

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Auch ein paar wenige Schweizer Staatsbürger kämpfen für ukrainische Truppen. Die Militärjustiz beobachtet sie und klärt in jedem Fall ab, ob sich die Person strafbar macht, weil sie fremden Militärdienst leistet. Es laufen sechs Verfahren gegen Schweizer, die in der Ukraine kämpfen. Ihnen drohen bis zu drei Jahre Haft. Wer jedoch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, dort niedergelassen ist und Militärdienst leistet, bleibt gemäss Gesetz straflos.

Die Sorgen der moldauischen Präsidentin über das Einrücken von moldauischen Staatsangehörigen oder russisch-moldauischen Doppelbürgern in die russische Armee sind nicht unbegründet. Im August 2022 veröffentlichte das investigative Nachrichtenportal «Rise Moldova» einen Bericht, der beweisen soll, dass in der Stadt Tiraspol, der grössten Stadt in der Separatistenregion Transnistrien, Soldaten für die russische Armee rekrutiert werden. In der Stadt wurden angeblich Poster an Bussen angebracht, die Soldaten anwerben.

Bereits im April wurden Gerüchte laut, dass Russland die Region Transnistrien zur Ausweitung des Kriegs nutzen könnte. Bisher ist das nicht geschehen. Ein russischer Einmarsch in Moldau erscheint aufgrund der aktuellen Lage des Krieges unwahrscheinlich, laut Militärexperte Carlo Masala hat der Kreml Ausrüstung aus Transnistrien abgezogen und in die Ukraine verlegt.

Wer ist schuld am Debakel? – Putins Schergen streiten sich öffentlich

Von Nora Seebach

Man könnte fast meinen, die ukrainische Propaganda hätte das Video gedreht. «Wir leben unter brutalen Bedingungen», klagen russische Soldaten vor laufender Kamera. «Niemand braucht uns», sagt der Soldat weiter.

Das unabhängige russische Medium «Meduza» hat das Filmchen sogar auf Englisch übersetzt und ins Netz gestellt. Doch ob das Video wirklich echte, wütende, frisch rekrutierte Soldaten in Belgorod zeigt, wird angezweifelt. Der Inhalt des Videos konnte bisher jedenfalls nicht unabhängig überprüft werden.

Wahrscheinlich handelt es sich um innerrussische Propaganda, um einen Teil des sich zuspitzenden innenpolitischen Machtkampfes unter Putins Freunden. Dabei geht es darum, den jeweiligen Rivalen die Schuld am militärischen Debakel an der Front zuzuweisen. Laut dem Journalisten Mark Krutov von Radio Liberty ist auf besagtem Video das Wappen der von Jewgeni Prigoschin geführten Wagner-Gruppe zu erkennen.

Krutov meint, dass das Video, das den kläglichen Zustand der offiziellen russischen Armee thematisiere, direkt Prigoschin und seiner Söldnertruppe in die Hände spiele. Damit wolle Prigoschin den russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu noch mehr diskreditieren.

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Nach den vielen Niederlagen im Feld wird es selbst für Kremlchef Wladimir Putin langsam ungemütlich, denn indirekt wird er jetzt nicht nur von Kriegsgegnern kritisiert, sondern auch von seinen Unterstützern, die oft noch radikaler sind als er selber. Dabei handelt es sich um die sogenannten «Siloviki», die Militärblogger und die Veteranen. Bei all denen versucht sich Putin laut dem amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) beliebt zu machen, denn er braucht sie auf seiner Seite.

Die «Siloviki» sind ein mächtiger Teil der russischen Elite, meist führende Beamte der Sicherheitsdienste und der Strafverfolgung, zu der sowohl Prigoschin als auch sein Rivale, der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, gehören. Beide haben sich in letzter Zeit kritisch zu den militärischen Niederlagen und zu den Fehlern bei der Teilmobilisierung geäussert.

Sie griffen öffentlich Verteidigungsminister Sergei Schoigu und seinen General Alexander Lapin an. Die Kritik: Deren Kriegsstil sei altmodisch und die Mobilisierung ein Debakel. (Lesen Sie hier mehr dazu). Zu diesem Narrativ passt das neue Video fast zu gut.

Im Jahr 2011 servierte Prigoschin (links) Putin noch Essen in seinem Restaurant in der Nähe von Moskau. Daher kommt sein Spitzname «Putins Koch».

Als Teil von Putins Umarmungsstrategie ist auch die Aussage von Kremlsprecher Dmitri Peskow zu sehen, Prigoschin leiste «im Rahmen seiner Möglichkeiten einen grossen Beitrag».

Kadyrow wurde am 5.Oktober von Putin gar zum Generalobersten ernannt – das ist der dritthöchste militärische Rang in Russland. Der Trick funktioniert: Am 6. Oktober postete der Tschetschenenführer auf Telegram, er sei dem Oberbefehlshaber «unglaublich dankbar» für die «grosse Wertschätzung».

Seine Unterstützung will Putin nicht verlieren: Schon im Jahr 2008 waren Kadyrow (rechts) und Putin Seite an Seite.

Eine weitere Herausforderung für den Kremlchef liegt bei den sogenannten Militärbloggern. Diese stehen den «Siloviki» kritisch gegenüber. Laut dem ISW gibt es zudem eine dritte Gruppe, der Putin gerecht werden muss. Es sind die Kriegsveteranen, die eine Rückbesinnung auf alte Grösse fordern.

Putin ist nun mit einem heiklen Balanceakt konfrontiert – er muss es schaffen, all die verschiedenen Zentrifugalkräfte, die in seinem Regime in verschiedene Richtungen ziehen, in Schach zu halten.

Einer seiner jüngsten Schachzüge ist die Verhaftung von Alexei Slobodenjuk wegen Betrugs. Slobodenjuk ist Angestellter der Mediengruppe des Wagner-Finanziers Jewgeni Prigoschin und Manager mehrerer Telegram-Kanäle. Alexander Khinshtein, Vorsitzender des Informationsausschusses der Staatsduma, publizierte ein Video auf seinem Telegram-Kanal, das die Verhaftung am 5. Oktober zeigen soll.

Er deutet weitere geplante Verhaftungen an und schreibt: «Diese Personen waren darauf spezialisiert, grosse Geschäftsleute und Angestellte staatlicher Unternehmen zu erpressen.» Kommt es dazu, könnte das indirekt den Wagner-Finanzier auch schwächen.

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Prigoschin hat jedoch schnell reagiert und laut ISW nur einen Tag später, am 6. Oktober, verkünden lassen, es gebe jetzt auch einen offiziellen Wagner-Telegram-Kanal. «Wir sind aus der Hölle gekommen. Wir sind WAGNER – unser Geschäft ist der Tod, und das Geschäft läuft gut», steht in der Einladung. Diesen eigenen Kanal, in dem er «unzensiertes Material von der Front» zeigen will, nennt er «Friedenswächter».

Laut dem ISW deutet die Verhaftung Slobodenjuks darauf hin, dass der Kreml versucht, ein Exempel zu statuieren. Putin will bestimmen, welche hochrangigen Beamten kritisiert werden dürfen und welche nicht.

Schoigu sei demnach Freiwild und ein «Sündenbock in der Warteschleife». Das heisst, Putin wird ihn so lange im Amt belassen, wie er als Sündenbock und Objekt der Kritik von Nutzen ist. Die Finger lassen müssten die Blogger jedoch von Aussenminister Lawrow, Kremlsprecher Peskow und natürlich von Putin selbst.

Bilder der Zerstörung nach dem russischen Rückzug in Liman

Von Florian A. Lehmann

Der Sieg kann so trostlos aussehen. Diese Feststellung gilt für die ostukrainische Stadt Liman, die am vergangenen Wochenende von den ukrainischen Truppen zurückerobert werden konnte.

Eindrücklich beschreibt die Korrespondentin der BBC, was ihre Augen erblicken: Die zerstörten Gebäude und Strassen, die vom Krieg traumatisierten Menschen, die aufgebahrten Leichen der russischen Soldaten. «Das einzige Aufbäumen des Lebens war ein Konvoi ukrainischer Truppen, die auf gepanzerten Mannschaftstransportern hoch zu Ross winkten und jubelten, als sie auf einer von Kiefernwäldern gesäumten Strasse aus der Stadt fuhren.»

Die Gegenoffensive rollt: Gut gelaunte ukrainische Soldaten fahren von Isjum nach Liman.

Der Angriffskrieg von Wladimir Putin fordert Opfer, nicht nur unter der Bevölkerung, sondern auch in der russischen Armee. «Die Leichen von fünf toten russischen Soldaten liegen nebeneinander, jetzt aufgedunsen und vom Tod entstellt, aber sie waren einmal der Ehemann oder der Sohn eines anderen», hält die BBC-Reporterin fest.

Zerstörte Wohnungen und Häuser: Stellvertretend für diesen Krieg das Bild aus Liman.

Freiwillige einer ukrainischen humanitären Gruppe würden die Leichen des Feindes nummerieren und nach allem suchen, was sie identifizieren können. Später würden die Toten oder die sterblichen Überreste der gefallenen Russen in schwarze Leichensäcke verpackt und vom Schlachtfeld weggefahren – die Schilderungen der Journalistin verpassen das Detail nicht.

Wladimir Putins Krieg fordert auch Opfer in den eigenen Reihen: Ein russischer Soldat hat sein Leben verloren.

Im Lager der Verteidiger kehrt während ihrer Offensive die Zuversicht zurück. «Wir werden gewinnen, ich fühle mich sehr gut, sehr gut», sagt ein junger ukrainischer Soldat auf einem erbeuteten Panzer des Feindes zur westeuropäischen Reporterin.

Traumatisierte Menschen: Junge und Alte stehen in Liman an, um Hilfsgüter zu erhalten.

Laut Angaben aus Kiew sollen bis zu 5000 russische Soldaten in Liman eingekesselt worden sein, bevor die Stadt fiel. Das ukrainische Verteidigungsministerium teilt in einem Tweet mit, dass fast alle russischen Truppen, die in Liman stationiert waren, «entweder in Leichensäcke oder in Gefangenschaft verlegt» worden seien. Die strategisch bedeutende Stadt gilt als Tor zur benachbarten Region Luhansk. Das ukrainische Militär hofft, von hier aus weiter vorzudringen.

Erfolgreicher Gegenstand: Zerstörtes russisches Kriegsmaterial in Liman.

Und die Bevölkerung? Sie hat andere Sorgen, kämpft im Alltag ums Überleben. Lena und ihr zehnjähriger Sohn Radion hoffen auf Waffenruhe, Frieden und fliessendes Wasser. «Wir trafen Mutter und Sohn auf dem Weg zu einem Brunnen, um einen Fünf-Liter-Behälter aufzufüllen. «Ich glaube, dass es friedlich sein wird», sagt Lena, die einen schwarzen Hut und mehrere Schichten Wollpullover trägt, «es sollte friedlich sein.» – «Alle haben schon genug gelitten. Das Schwerste war, den Beschuss zu überleben. Wir haben gebetet, als wir im Keller blieben. Die Lage ist immer noch angespannt, aber insgesamt bin ich glücklich.»

Sohn Radion muss auf Schulstunden verzichten, dafür lernt er die Lektionen des Kriegs. «Es gab viele Bomben hier. Krieg ist sehr schlimm, denn es sterben Menschen. In meinem Herzen ist es jetzt friedlicher.»

Für einmal schweigen die Waffen: Zwei Frauen und ein Hund vor einem Bunker in Liman.

In den Strassen der Stadt sind immer noch geschmierte prorussische Slogans an Wänden, Kiosken und Bushaltestellen zu sehen. Der Gast aus dem Westen hält nach seinem Besuch fest: «So sehr sich Präsident Putin auch wünschen mag, die Sowjetunion seiner Jugend wiederauferstehen zu lassen, die Ruinen von Liman sind ein Beweis für sein Scheitern.»

Die Menschen in Liman getrauen sich wieder auf die Strasse und erhalten etwas zu essen.

In den vom Krieg stark betroffenen Städten und Ortschaften befinden sich die Einwohnerinnen und Einwohner auf der Suche nach dem friedlichen Leben von einst. Auch wenn das Geld fehlt, so wird versucht, die Ruinen wieder bewohnbar zu machen. Zumindest von jenen Menschen, die geblieben oder nach Hause zurückgekehrt sind. (Lesen Sie dazu: Reportage aus Charkiw: Sie bauen die zerborstene Stadt wieder auf).

Ein Stück Hoffnung: Kinder und Jugendliche spielen Fussball.

Doch der Fakt bleibt, dass viele Menschen aus der Ukraine geflüchtet sind. Gemäss der UNO (UNHCR) ist die Zahl der Flüchtlinge auf 7’643’944 gestiegen (Stand 4. Oktober 2022). In der Schweiz sind es 67’108 Personen, die den Schutzstatus S beantragt haben (5. Oktober 2022). Und der Winter steht vor der Tür: Die Zahl der Vertriebenen dürfte europaweit nach oben klettern.

«Natürlich haben wir sie erschossen» – was russische Soldaten in Butscha ihren Müttern zu Hause erzählten

Die Soldaten sind ernüchtert, fühlen sich gar von Putin belogen und betrogen. Dies kann nun verstörenden Audiodateien aus dem Krieg entnommen werden, die von der «New York Times» publiziert, verifiziert und übersetzt wurden.

Die rund 4000 Mitschnitte stammen aus der Zeit, als die russischen Truppen im März in den Aussenbezirken Kiews bei Butscha die Stellung halten mussten – und realisierten, dass der Angriff auf die Ukraine keineswegs nur ein paar Tage beanspruchen würde.

So kontaktierten die Soldaten verbotenerweise ihre Angehörigen zu Hause via Telefon – ohne zu wissen, dass sie von ukrainischer Seite abgehört wurden. Hunderte Nummern wurden von 22 geteilten Handys angerufen. Manchmal waren die Gespräche belanglos, manchmal so grausig, dass sie unser Vorstellungsvermögen übersteigen.

Ein Hund nähert sich einem leblosen Körper, der im Garten eines Hauses in Butscha, am Stadtrand von Kiew, Ukraine, liegt, Sonntag, 3. April 2022.

Der Frust aber zeigt sich in fast jedem Gespräch. «Wir wurden wie kleine Kinder verarscht», meint ein Soldat zu einem Freund in der Heimat. Sie hätten nicht gewusst, dass sie in die Ukraine geschickt würden, in den Krieg. Man habe ihnen gesagt, es gehe Richtung Trainingslager.

Butscha ist seit April dieses Jahres international bekannt. Die Bilder der Massaker an ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten gingen um die Welt. Der Kreml nannte die Berichterstattung damals eine Provokation und Fake News.

Die Soldaten aber mussten die erlebten und selbst verübten Gräuel irgendjemandem erzählen und riefen ihre Freundinnen oder Mütter an. So wurden entsetzliche Geständnisse aufgezeichnet. Sergey meint, er habe «noch nie so viele Leichen gesehen». «Man erkennt nicht, wo sie aufhören», fügt der Soldat Sergey im Gespräch mit seiner Mutter hinzu. Sein Befehl war, «alle, die wir sehen, zu töten». Und seiner Freundin offenbart er:

Sergey: Natürlich haben wir sie erschossen.

Freundin: Warum habt ihr sie nicht als Gefangene genommen?

Sergey: Wir hätten sie ernähren müssen, und wir haben selbst nicht genug zu essen.

Ein Arbeiter ruht am 11. August 2022 während des Massenbegräbnisses nicht identifizierter Menschen, die zur Zeit der russischen Besatzung in Butscha getötet wurden.

Schon im März sprachen die Soldaten über fehlendes Material, Essen und Munition – und nicht erst seit der Offensive der Ukraine im September. Die Ausrüstung ist so kläglich, dass wegen fehlender Nachtsichtgeräte der Soldat Nikita von den eigenen Streitkräften beschossen wurde.

Andere stahlen die Ausrüstung direkt von den Leichen ukrainischer Soldaten – «ihre Nato-Panzerung ist besser als unsere».

Manche prahlen auch damit, wie alles, was nicht niet- und nagelfest ist, mitgenommen wird: Fernseher, Fleischwölfe, Schraubenzieher, Koffer... Das Völkerrecht verurteilt Plünderungen in bewaffneten Konflikten – sie gelten als Kriegsverbrechen. (Lesen Sie hier mehr dazu)

Bilder der russischen Soldaten gibt es keine, nur von dem, was sie in Butscha zurückgelassen haben: Ein Ukrainer trägt im April Särge, umringt von Leichen.

In einigen Gesprächen wird der Kremlchef namentlich kritisiert: «Wann wird Putin das alles beenden? Er hat einen gravierenden Fehler gemacht.» Ein Soldat namens Jewgeni sagt unverblümt «wir verlieren».

Viele beklagen sich am Telefon auch über ihre Kommandanten, deren Befehle und Entscheide. Der Glaube an den Staat und das Militär scheint für diese Männer einen Tiefpunkt erreicht zu haben. Wladim sagt zu seiner Partnerin: «Ich werde einen zivilen Job suchen, und mein Sohn wird auf keinen Fall in die Armee eintreten.»

Nora Seebach, 5. Oktober 2022

Mit Flip-Flops an der Front – über den Zustand russischer Soldaten

In einem Bericht vom 3. Oktober aus Korowi Jar in der Nähe von Liman, publiziert in der «New York Times», schildert ein 26-jähriger freiwilliger Kämpfer aus den USA, wie er und die ukrainischen Streitkräfte die russischen Soldaten bei ihrem Rückzug angetroffen haben: «Oft trugen sie Flip-Flops und waren unterernährt». Sie stiessen angeblich auch auf Graffiti, in denen die Russen ihre Vorgesetzten beleidigten.

Am 30. September verkündete Putin vier Regionen im Osten der Ukraine nach einem Scheinreferendum als annektiert. Dann, fast zeitgleich, wurden die russischen Truppen in Liman, in der annektierten Region Donezk, von ukrainischen Truppen umzingelt und schliesslich zum Rückzug gezwungen. Seitdem gilt Liman als befreit, nach über vier Monaten Besatzung.

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In den russischen Medien wird der Grund für die Niederlage desertierenden Soldaten zugeschrieben. Ausserdem seien schlechte Planung und zu späte Verstärkung mitschuldig. (Lesen Sie hier mehr dazu)

Das «totale Durcheinander» herrscht anscheinend nicht nur an der Front, sondern auch beim Training der erst gerade eingezogenen russischen Soldaten. Auf dem unabhängigen russischen Newsportal «Mediazona» beschreibt ein Russe, was er bei der Mobilisierung erlebt. Das Medienunternehmen wurde von zwei Mitgründerinnen von Pussy Riot ins Leben gerufen.

Die Zustände in den russischen Ausbildungszentren sind prekär: Nur eine funktionierende Toilette für 230 Männer.

Der anonyme Soldat erzählt von veralteten Waffen, Moos-überwachsenen Stiefeln und einem riesigen Chaos bei der Aufgabenverteilung – ausgebildete Scharfschützen würden als einfache Infanteristen eingesetzt und umgekehrt. Und manchen fehle die Übung sogar komplett:

«Keine Ausbildung, null. 19-jährige Jungs, die direkt vom Wehrdienst kommen. Dort verbrachten sie zwei Monate – und schossen keine einzige verdammte Kugel. Dann kamen sie hierher, gingen einmal auf den Schiessstand und zogen in den Krieg.»

Und während gemäss diesem Bericht junge Männer ohne Erfahrung an die Front geschickt werden, lässt Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow via Social Media verkünden, er werde jetzt seine drei minderjährigen Söhne in den Krieg schicken.

Als Reaktion auf den Rückzug aus Liman hatte er gefordert, dass Russland «ernsthaftere Schritte» unternimmt, «bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen». Seine Ankündigung ist untermalt von einem Video, in dem die Teenager mit schweren Waffen feuern. Der Jüngste ist 14 Jahre alt.

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Nora Seebach, 4. Oktober 2022

Putin tauscht Schafe gegen Reservisten – so mobilisiert der Kremlherrscher in der Armutsregion Tuwa

Tuwa ist eine autonome russische Republik an der Grenze zur Mongolei. Die Region ist buddhistisch geprägt und gehört zu den ärmsten in Russland. Aus Tuwa stammt Verteidigungsminister Sergei Schoigu, dort hat er sich schon mit Wladimir Putin auf Pilzsuche gemacht. Im Sommer setzt sich der Kremlchef im Süden Ostsibiriens auch als Outdoor-Allrounder in Szene und schwimmt durch einen eiskalten See.

Derzeit ist es den beiden Männern aber nicht nach Ferien zumute. Seit dem 24. Februar führen Putin und Schoigu einen brutalen Krieg gegen die Ukraine, der zuletzt ins Stocken geraten ist. Russland sieht sich genötigt, vor allen in armen Regionen wie Tuwa, in denen ethnische Minderheiten leben, Reservisten als Kanonenfutter zu mobilisieren. Schoigus Vater beispielsweise war ethnischer Tuwine.

Seit Beginn der russischen Invasion wurden laut «Wall Street Journal» fast 100 Männer aus Tuwa in der Ukraine getötet. Es ist eine hohe Zahl angesichts der Gesamtbevölkerung von 330'000 Menschen. Der Durchschnittslohn in Tuwa beträgt umgerechnet etwa 330 Franken, ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Kriminalitätsrate ist eine der höchsten in Russland: Im Jahr 2020 gab es 29,2 Morde pro 100’000 Einwohner. Der Landesdurchschnitt lag bei 4,7.

Putin will etwa 300'000 Reservisten einziehen – trotz des Unmuts in den Provinzstädten und entlegenen Teilrepubliken.

Um die Familien von Reservisten in Tuwa zu besänftigen, hat sich das Putin-Regime etwas ausgedacht: Die Angehörigen erhalten ein lebendes Schaf für jeden mobilisierten Mann. Der Pressedienst der Republik Tuwa meldete kürzlich, die Behörden hätten damit begonnen, «den Befehl des Staatsoberhauptes auszuführen» und den Familien Schafe und Kohle auszuhändigen.

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«Durch die gemeinsamen Bemühungen der Behörden und der engagierten Einwohner sollen die Angehörigen und Freunde der Soldaten das Gefühl haben, dass sie mit den Problemen des Alltags nicht allein gelassen werden», heisst es weiter in der Mitteilung. An einem Tag sollen 91 Familien je ein Schaf erhalten haben. Die örtlichen Sägewerke stellen zudem Brennholz zur Verfügung.

Mütter aus Tuwa beklagen sich, ihre Söhne würden bedroht, wenn sie nicht in der Ukraine kämpfen wollten. Letzte Woche kam es zu heftigen Protesten in Tuwas Hauptstadt Kysyl. Diese wurden von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen. 20 Frauen sollen festgenommen worden sein.

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Bereits im Frühjahr sagte ein buddhistischer Mönch: «Unsere Jungs sterben. Das ist traurig.» Das US-Verteidigungsministerium schätzt, dass seit Ende Februar im Ukraine-Krieg bis zu 80'000 Russen getötet oder verletzt wurden. Die russische Seite spricht von etwa 5000 gefallenen Soldaten.

Enver Robelli, 3.Oktober 2022

Zivile Opfer im Krieg: Tödliches Feuerwerk über der Ukraine

6000 tot, 8800 verletzt – und das sind nur die verifizierten Zahlen.

Das sind keine Soldatinnen, keine bewaffneten Kämpfer. Das sind die zivilen Verluste, die die Ukraine durch russische Angriffe seit dem Kriegsausbruch im Februar erlitten hat. Und das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte OHCHR, das die Berichte veröffentlicht, geht davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen erheblich höher sind.

Kürzlich tauchte ein Video in den sozialen Medien auf. Glühender weisser Regen fällt auf ein kleines Dorf, wie tödliche Sternschnuppen. Beim Einschlag entflammen hier und da kleine Feuer zwischen und auf den Häusern. Die scharfe Drohnenaufnahme aus der Vogelperspektive ist von einer gespenstischen Schönheit und zeigt gleichzeitig den Albtraum eines jeden Zivilisten im Krieg: Brandbomben.

Es grenzt an Hohn, dass dieser fast märchenhaft wirkende Todesregen zu den perfidesten Verletzungen am menschlichen Körper führt. Brandbomben können laut der Organisation Human Rights Watch zu Verbrennungen, Verätzungen bis auf die Knochen, Atemwegsschäden, Schock, Erstickung und Kohlenmonoxidvergiftungen führen – viele sterben einen langsamen Tod.

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Gepostet wurde das Video auf Twitter vom ukrainischen Parlamentarier Roman Hryshchuk. Er untermauerte das Video mit dramatischer, manche meinen gar geschmackloser Musik.

Auch das ukrainische Verteidigungsministerium postete es und beschuldigte Russland. Bei einem solchen Video ist jedoch Vorsicht geboten, es stellen sich einige Fragen.

Wir sehen also, wie das Dorf Oserne in der ukrainischen Region Donezk getroffen wird, es wurde erst diesen Monat aus russischer Besatzung befreit. Über den Ort der Aufnahme besteht kein Zweifel, er wurde von verschiedenen Seiten verifiziert.

Die Expertin Marina Miron vom King's College London betonte aber gegenüber der Zeitschrift «Newsweek», dass der Beschuss nicht einfach Russland zugeschrieben werden könne. Beide Seiten besitzen Brandbomben, und es war bisher nicht möglich, aus den Metadaten des Videos herauszufinden, an welchem Tag der Angriff auf Oserne stattgefunden hat und wem die filmende Drohne gehört.

Auf den Satellitenbildern der Nasa sind mehrere Brände zwischen dem 5. und dem 17. September um das Dorf herum verzeichnet. Laut Miron handelt es sich auf dem Video um sowjetische Thermit-Bomben, eine Brandwaffe, die das chemische Gemisch Thermit benutzt, das lange sehr heiss brennt.

Dass Russland hinter dem Angriff steckt, ist demnach möglich, kann aber nicht bestätigt werden. Mauro Mantovani, Militärstratege an der ETH Zürich, meint, dass die russische Armee «schon seit eh und je ihre Kriegführung mit Angriffen auf zivile Ziele verband».

Dies sehe man auch heute in der Ukraine: «Die russische Armee hat sich seit Anfang dieses Krieges nicht einmal bemüht, Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden, wie dies das humanitäre Völkerrecht verlangt. Sie hat sogar absichtlich rein zivile Ziele angegriffen: Wohnblocks, Schulen, Spitäler, Einzelpersonen.»

Nur wenn der russischen Armee die Munition ausgeht und sie noch mehr unter Druck der ukrainischen Armee gerät, könnte dies zu einer Priorisierung der militärischen Ziele führen und die zivilen Ziele in den Hintergrund treten lassen.

Doch was hat Russland von solchem Terror? Mauro Mantovani sieht dreierlei Zwecke.

  1. Eine direkte Schwächung der lokalen Bevölkerung, welche die kämpfenden Truppen unterstützt.

  2. Indirekten Druck auf die Regierung in Kiew, nachzugeben und zu kapitulieren.

  3. Die Vertreibung der Bevölkerung nach Europa und damit indirekten Druck auf die europäischen Regierungen, nachzugeben: Diese sollen die Sanktionen aufheben und ihre Unterstützung der Ukraine einstellen.

Die Anwendung von Brandbomben auf zivile Ziele hat eine lange Geschichte. Ein bekanntes Beispiel sind die Brandbomben, die die Alliierten im Zweiten Weltkrieg anwendeten, um die Moral der deutschen Bevölkerung zu brechen. Auch die Schweiz wurde nicht verschont: 1944 wurde Schaffhausen aus Versehen Ziel der amerikanischen Luftwaffe, die Piloten hatten sich in Deutschland gewähnt.

Kiew und Moskau werfen sich seit Kriegsbeginn gegenseitig den Einsatz von Brandbomben vor, wie man sie im Video von Oserne sieht. Oft wird in solchen Anschuldigungen auch der Begriff «Kriegsverbrechen» benutzt, dieser hat internationale Strahlkraft, kann wichtige Unterstützung mobilisieren und beschwört Bilder herauf. Ausserdem können Kriegsverbrechen, die als solche belegt werden können, strafrechtliche Konsequenzen haben.

In der Genfer Konvention, die das humanitäre Völkerrecht regelt, ist der Einsatz von Brandbomben dann ausdrücklich verboten, wenn zivile Ziele getroffen werden können, zum Beispiel bewohnte Städte oder Dörfer wie Oserne. Der Einsatz von Brandbomben ist also eingeschränkt, aber nicht in jedem Fall verboten.

Letzten Dezember stellte die Schweiz an einer UNO-Konferenz die Frage, ob die neueste Version der Genfer Konvention, das Protokoll III, noch genüge, ob die Zivilbevölkerung so ausreichend geschützt sei. Auch 20 andere Staaten forderten eine vertiefte Debatte darüber.

Russland stoppte damals den Vorschlag, zwei Monate vor dem Überfall in die Ukraine.

Nora Seebach, 29. September 2022

Putins Teilmobilisierung – dem US-General fällt der Kiefer runter

Wladimir Putin will also mindestens 300’000 Reservisten aufbieten für den Krieg in der Ukraine. Angeblich denkt der Kreml sogar darüber nach, eine Million in die Schlacht zu schicken.

Nun, das sind keine professionellen Soldaten, sondern ehemalige Wehrmänner, denen Praxis und Übung fehlen. Die Begeisterung der Russinnen und Russen hält sich entsprechend in Grenzen.

Und inzwischen gibt es Meldungen, dass die Proteste lauter werden, vor allem von den Frauen, die zurückbleiben. Die bekannte Publizistin und Putin-Kritikerin Anne Applebaum hat zum Beispiel dieses Video aus Dagestan gepostet:

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Und Kollegin Zita Affentranger hat sich dazu in einem Podcast Gedanken gemacht.

Die Proteste gegen die Teilmobilisierung sind das Eine. Putins Schergen können sie einfach niederknüppeln. Nicht niederknüppeln lässt sich dagegen das weit grössere Problem, nämlich die Teilmobilisierung an sich.

Wer je im Rahmen einer Mobilmachungsübung in einen Wiederholungskurs der Schweizer Armee eingerückt ist, kann ein Lied davon singen: Da geht es oft chaotisch zu und her, viel muss improvisiert werden, und ab und zu geht selbst ein tüchtiger Wehrmann in einer Scheune vergessen. Und das gilt für eine Übung in der Schweiz mit ihren kurzen Distanzen und dezentralisierten Mobilmachungsplätzen.

Eine Mobilisierung ist eine der schwierigsten und komplexesten militärischen Operationen, nie ist eine Armee so verwundbar wie in dieser Phase, auch das lernt man im WK.

Noch viel mehr gilt das für Russland, im Gegensatz zur übersichtlichen Schweiz ein Imperium, das sich über 11 Zeitzonen erstreckt. Nur schon aus geografischen Gründen dürfte es schwierig sein, 300’000 Soldaten zusammenzutrommeln.

Dem pensionierten US-General Mark Hertling klappte denn auch «der Kiefer runter», als er von Putins Ankündigung erfuhr, wie er auf Twitter schreibt. Die Ankündigung der russischen Teilmobilisierung analysiert er in einem interessanten Thread. Und er weiss, wovon er spricht.

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Denn General Hertling kommandierte zuletzt die US-Landstreitkräfte in Europa, bevor er die Armee Ende 2012 verliess. Von 2007 bis 2009 führte er die 28’000 Angehörigen der US-Task-Force im Nordirak.

Vor allem aber war Hertling von 2009 bis 2011 für die Ausbildung in der US-Army verantwortlich, wobei das Training an mehr als zwei Dutzend Standorten stattfand. Das macht Hertling zur interessanten Quelle, wenn es um die russische Teilmobilisierung geht.

In seinem Twitterbeitrag berichtet er zunächst über seine Tätigkeit und darüber, wie das militärische Training in der US-Army organisiert ist: Während seiner Zeit als Kommandant in Europa seien ungefähr «150’000 neue Soldaten pro Jahr an damals 5 Standorten für die Grundausbildung und an 21 Standorten für die erweiterte Ausbildung» geschult worden.

Demnach erhalten die meisten neuen US-Soldaten eine zehnwöchige Grundausbildung, wobei sie je nach Waffengattung auch länger dauert, etwa bei der Infanterie, der Artillerie oder der Militärpolizei. Darauf folgt noch eine Spezialisierung, zum Beispiel im Bereich Logistik.

Während dieser Zeit werden die Soldaten und Soldatinnen «von sehr professionellen Drill-Sergeants geschult». Ein überzeichnetes Bild eines solchen amerikanischen Ausbildners bietet der Film «Full Metal Jacket» mit der Figur von Drill-Sergeant Hartman. (Schauspieler Ronald Lee Ermey war übrigens selbst ein früherer US-Marine.) Nach ihrer Ausbildung melden sich die US-Soldaten bei ihrer Einheit und übernehmen die für sie vorgesehene Funktion.

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General Hertling erinnert daran, dass die USA 344 Millionen Einwohner haben und die Army 150’000 Personen pro Jahr ausbildet. Dagegen hat Russland eine Bevölkerung von 144 Millionen.

Alle russischen Wehrpflichtigen durchlaufen gemäss Hertling ihre Grundausbildung in Labinsk in der Region Krasnodar in Südrussland. Einige Soldaten erhalten zusätzlich eine Spezialausbildung, die meisten jedoch werden erst in ihrer Einheit geschult.

Und mit Blick auf den Krieg in der Ukraine schreibt Hertling: «Die russischen Soldaten erhielten nur wenige Tage Grundausbildung, bevor sie im November letzten Jahres nach Belarus geschickt wurden», wo die russischen Streitkräfte vor der Invasion zum Teil aufmarschierten.

In seiner aktiven Zeit, als das Verhältnis zwischen dem Westen und Moskau noch entspannter war, reiste Hertling zweimal nach Russland. Dabei besuchte er russische Streitkräfte, die ausgebildet wurden, zuerst im Grundkurs und dann bei ihren Einheiten.

Die militärische Grundschulung bezeichnete der US-General als «furchtbar»: «Gewöhnung statt Qualifikation an den Gewehren, rudimentäre Erste Hilfe, sehr wenige Simulationen, um Ressourcen zu sparen.» Vor allem aber sei die Führung durch die Drill-Sergeants «schrecklich» gewesen. Schlimmer noch als in «Full Metal Jacket»?

US-General Mark P. Hertling war im Irak im Einsatz: Im Bild sieht man, wie er im Jahr 2007 in Bagdad zu den Medien spricht.

Offenbar ist auch die Spezialausbildung dürftig, wobei es darauf ankommt, wie eine Einheit ausgestattet ist. Hertling berichtet: «Angehörige einer Panzereinheit, die ich in der Nähe von Moskau besuchte, erzählten mir stolz, dass jede Panzer-Besatzung pro Jahr einen Schuss abgeben könne.» Einen pro Jahr!

«US-Einheiten», fährt Hertling fort, «verbringen Stunden in Simulatoren, und die Besatzungen feuern Dutzende Male pro Jahr mit scharfer Munition.» Das gilt auch für die Schweizer WK-Soldaten, wenn sie die Mobilmachungsübung einmal überstanden haben.

Im Gegensatz zur Ausbildung der russischen Soldaten ist jene ihrer ukrainischen Gegner nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 modernisiert worden. Seither bilden amerikanische Instruktoren Ukrainer aus.

Hertling fasst am Ende seines Threads zusammen: «Die russische Armee ist schlecht geführt und schlecht ausgebildet. Das fängt schon bei der Grundausbildung an und wird auch während der Zeit, die die russischen Soldaten in Uniform verbringen, nicht besser.»

Deshalb werde die Mobilisierung von 300’000 Reservisten «extrem schwierig». Zumal die konventionellen Streitkräfte, die zusammengewürfelten Milizen und der Einsatz von Paramilitärs wie der Wagner-Gruppe samt Rekrutierung von Gefangenen keinen Erfolg gebracht haben. Mit «Neulingen» an der Front erwartet General Hertling «ein weiteres Desaster» der Russen. Sein Kiefer sei immer noch unten.

Christof Münger, 27. September 2022

Video: Wagner-Chef rekrutiert russische Häftlinge für den Krieg

Im Video schwenkt die Kamera – vermutlich ein Handy in einer Brusttasche versteckt – zuerst entlang der im Kreis versammelten Häftlinge in schwarzer Kleidung. In der Mitte wird eine glatzköpfige Gestalt in brauner Jacke sichtbar. «Ihr habt sicher schon vom privaten Sicherheits- und Militärunternehmen Wagner gehört.» Jewgeni Prigoschin, der mutmassliche Anführer der besagten Gruppe, bietet den Häftlingen die Freiheit an – falls sie für sechs Monate in den Krieg ziehen. Aber er warnt auch: Wagner-Soldaten dürften keine Fehler machen. Prigoschin nennt diese Fehler «Sünden» und meint Todsünden. Drei zählt er auf:

  1. Sünde: Desertieren. «Niemand fällt zurück. Niemand zieht sich zurück. Niemand ergibt sich in Gefangenschaft.»

  2. Sünde: Alkohol und Drogen. «Bei uns seid ihr immer in der Kampfzone.»

  3. Sünde: Plündern. Dazu zählt er auch Vergewaltigungen.

Er kündigt einen Fitnesstest an und einen Lügendetektortest für spezielle Fälle. Bei Häftlingen, die drogenabhängig gewesen seien, halte er sich zurück, da sei Vorsicht geboten. Ebenso bei den sexuellen Straftätern – jedoch verstehe er, so Prigoschin, «dass Fehler passieren können»

Fünf Minuten gibt er den Häftlingen, um ihre Entscheidung zu treffen.

Die Wagner-Gruppe kämpft aktuell für Russland an der Front im Donbass. Die Mitglieder werden beschuldigt, in zahlreichen Einsätzen Gräueltaten und Kriegsverbrechen verübt zu haben. Aber Putin braucht deutlich mehr Soldaten für seinen Krieg in der Ukraine. Insbesondere, da die ukrainischen Streitkräfte die Russen zurückgedrängt haben und der Druck auf Putin und seine Führung auch im eigenen Land steigt. Dies führte dazu, dass Putin heute die Teilmobilmachung verkündete.

Kein offizieller Teil der russischen Armee ist das private Sicherheits- und Militärunternehmen Wagner, das schon in in Syrien, Libyen, Mali und der Zentralafrikanischen Republik kämpfte. Putin konnte sich bis jetzt dadurch nicht nur von dessen Gräueltaten distanzieren, sondern auch seine Verluste in Kriegen herunterspielen.

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Seit zwei Monaten tauchen Augenzeugenberichte aus russischen Gefängnissen auf, wonach Insassen von Haftanstalten ausgehoben würden, für den Krieg in der Ukraine. Darunter sind offenbar auch Mörder und Räuber, angeblich ausgehoben von Prigoschin.

Nun ist kürzlich das Video aufgetaucht, das nicht nur das Gesicht des kamerascheuen Prigoschin zeigt, sondern auch seine Worte wiedergibt, mit denen er die Inhaftierten für den Kampf in der Ukraine gewinnen will. Wann genau das Video aufgenommen wurde, ist unklar.

Laut mehreren Social-Media-Usern, die Standorte von Videos, sogenannte Geolocations, recherchieren, befindet sich das im Video gezeigte Gefängnis, das Straflager Nr. 6, in der russischen Teilrepublik Mari El. Dies wurde von der «New York Times» bestätigt.

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Wie so oft bei Videos, die in den sozialen Medien zirkulieren, war zuerst unklar, ob wir wirklich Prigoschin bei der Arbeit sehen. Doch mehrere Experten, darunter Christo Grozev von Bellingcat, einem Recherchenetzwerk, spezialisiert auf Faktenchecks und Open-Source-Informationen, haben das Video auf seine Echtheit hin geprüft. Und inzwischen hat Prigoschin selbst ein Statement veröffentlicht, das die Vermutung stützt, dass das Video echt ist: «Entweder [kämpfen] Söldner und Häftlinge, oder eure Kinder tun es – entscheidet selbst.»

Der kremlnahe De-facto-Chef der Wagner-Gruppe ist gleichzeitig Besitzer einer Catering-Firma und wird deshalb «Putins Koch» genannt. Aber auch Gefängnisse sind für Prigoschin keine fremde Umgebung. Wegen Raubüberfalls, Betrugs und anderen Vergehen wurde er zu 13 Jahren Haft verurteilt – davon sass er 9 Jahre ab, bis er 1990 entlassen wurde.

Die Wagner Gruppe wirbt nun offiziell mit Prigoschins Gesicht.

Experten nehmen an, dass Prigoschin im Auftrag des Kreml agiert oder zumindest mit dessen Duldung. Denn nur der russische Staat hat das Recht, Häftlinge zu begnadigen.

Das Video scheint auch Teil einer Veränderung in der Strategie von Prigoschin zu sein. Noch vor wenigen Monaten verfolgte er eine Klage gegen den Gründer von Bellingcat wegen Diffamierung, weil dieser in Tweets Prigoschins Namen mit der Wagner-Gruppe in Verbindung gebracht hatte. Das «Institute for the Study of War» schreibt nun, dass Prigoschin «als Gesicht der russischen ‹militärischen Sonderoperation›» inszeniert werden solle. Und die sogenannte Privatarmee Wagner wirbt seit kurzem auf Plakaten auch mit Prigoschin. Der Slogan: «Werde Teil der Elite, die russische Interessen verteidigt.»

Nora Seebach, 21. September 2022

Korrigendum vom 28.09.2022, 10 Uhr: In einer früheren Version dieses Artikels wurde fälschlicherweise geschrieben, dass Prigoschin unter anderem für Prostitution von Minderjährigen zu 12 Jahren Haft verurteilt wurde. Richtig ist, dass er zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde und seine Vergehen nicht die Prostitution von Minderjährigen beinhalten, wie schon vom Onlinemagazin «Meduza» im Juni 2021 richtiggestellt wurde.

Minen, Lego und Wodka – auf dem Weg ins zurückeroberte Gebiet

«Heute bin ich gescheitert», schreibt der ukrainische Bahnchef Olexandr Kamischin während der ukrainischen Rückeroberung der besetzten Gebiete im Nordosten auf Twitter. Sein Plan war es, Balaklija mit dem Zug zu erreichen.

Gegenüber der BBC sagte der Bahnchef letzte Woche, es sei sehr wichtig, der Bevölkerung zu zeigen, «dass die Verbindung wiederhergestellt ist, sobald unsere militärischen Truppen die Gebiete zurückerobert haben». Er will die zwei auseinandergerissenen Welten wieder zusammenbringen. Doch der Krieg legt ihm dabei eigenartige Gegenstände in den Weg.

Der 38-jährige Vater von zwei Söhnen ist kein typischer «Bähnler», sondern kommt ursprünglich aus der Investmentbranche: Olexandr Kamischin dokumentiert auf Twitter seinen Weg ins zurückeroberte Gebiet.

Kamischin und sein Team starten die Reise für die Gleisreparatur vom Hauptbahnhof in Charkiw aus mit einem orangefarbenen Diensttriebwagen. Immer dabei ist Kamischins Handykamera.

Wir sehen, wie die Schienen von feuchten, grünen Wiesen und einem dunklen Tannenwald gesäumt sind, die Gleise so lang, dass sie am Horizont verschwinden. Es ist ruhig, und man hört nur den Wind und die Geräusche eines Zuges, das könnte irgendwo sein. Dann aber wird schnell klar, dass dieser Zug sich in einem Kriegsgebiet bewegt: Schilder, die vor Minen warnen, tauchen in der Mitte der Gleise auf, rote Schrift auf weissem Hintergrund.

Minenräumungsexperten laufen über zehn Kilometer die Gleise ab. Eine benutzte Rakete quer über den Schienen. Rechts zieht ein zerstörtes Getreidelager vorbei. Das Team trifft auf die erste gebrochene Schiene. Stunden später ist auch das geflickt.

Zum Mittagessen gibt es für die Gruppe Wurst, Brotscheiben und Tomaten. «Wir haben heute eine wichtige Mission zu erfüllen und können keine Zeit für ein normales Mittagessen verschwenden», schreibt Kamischin.

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Ein noch nicht detoniertes Hurrikan-Projektil, noch aus Zeiten der Sowjetunion, 1976 produziert, liegt am Schienenrand. Kamischin witzelt, er selbst sei sogar jünger als dieses russische Geschoss.

Immer mehr Funde verlangsamen die Fahrt, Rückstände von Phosphorbomben oder ein weisses Pulver, das die Experten nicht identifizieren können.

Die Infrastruktur der Eisenbahn ist ein beliebtes Ziel für Angriffe des Gegners – deren Funktionieren hat direkte Konsequenzen auf die Kriegsführung. 238 Angestellte der Bahn wurden seit Beginn des Krieges getötet, 407 verletzt.

Auch am zweiten Tag schafft es Kamischin nicht, Balaklija zu erreichen. Doch das Team trifft auf einen verlassenen Stützpunkt der Russen neben den Gleisen.

Kamischin dokumentiert penibel, was er dort alles Erstaunliches antrifft. Leere Plastikdosen mit Essensresten. Zurückgelassene Stiefel. Leimtuben, die den russischen Soldaten als Drogen gedient haben sollen. Legosteine, die grauen, gelben, roten, blauen und orangen Teile auf dem Boden verstreut. Eine Munitionsbox, auf die die Abkürzung für die Sowjetunion UdSSR und ein Nato-Stern gezeichnet wurden.

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Abrupt wird seine Dokumentation von einem Bild mit einer Kerze unterbrochen: «Und dann treffen zwei Sappeure auf eine Mine. Einer ist tot, der zweite ist verletzt. RIP.» Sappeure sind im Krieg verantwortlich für technische Arbeiten wie zum Beispiel den Bau von Brücken, manchmal aber auch für das Räumen von Minen.

Nach drei Tagen erreicht Kamischin sein Ziel. Die kleine Stadt war ein halbes Jahr unter Besatzung. Journalisten und Ermittlerinnen sprechen nun von mutmasslichen Kriegsverbrechen, von Folter und Gräbern, von Umerziehungsplänen für Kinder. Aber Teile des Bahnhofs stehen noch.

Kamischin macht ein Selfie vor dem Bahnhofsgebäude und spricht zusammen mit einem Anwohner in die Kamera. Die Russen haben Wodkadosen zurückgelassen. Geschmack: Schwarze Johannisbeere. Rundherum sieht man Glassplitter und Metallstangen.

Jetzt fahren laut dem Bahnchef wieder zweimal täglich Züge von Balaklija nach Charkiw. Seine Twitter-Dokumentation soll zeigen, wie sich die Ukraine nicht unterkriegen lässt, trotz allem. Kamischins Motto, dem er sogar einen eigenen Twitter-Hashtag gewidmet hat, ist #keeprunningonschedule – weiterhin den Fahrplan einhalten.

Nora Seebach, 20. September 2022

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Russische Raketen treffen Staudamm bei Kriwi Rih

Das war bestimmt kein Zufall: Am Mittwoch, als Wolodimir Selenski die befreite Stadt Isjum in der Region Charkiw besuchte, attackierten die Russen Kriwi Rih, die Heimatstadt des ukrainischen Präsidenten. Acht Raketen und Marschflugkörper trafen gemäss Medienberichten die Infrastruktur der Wasserversorgung von Kriwi Rih sowie einen Damm des nordwestlich der Stadt gelegenen Wasserreservoirs. Durch das zerstörte Pumpwerk des Staudamms strömten derart grosse Wassermassen, dass der Fluss Inhulez über die Ufer trat. Der Wasserpegel des Flusses soll um bis zu zweieinhalb Meter gestiegen sein. In den sozialen Medien veröffentlichte Videos und Fotos zeigen überflutete Wohngebiete.

Nach Angaben von Oleksandr Wilkul, Chef der Militärverwaltung von Kriwi Rih, erfassten die Fluten über 110 Häuser, Hunderte Menschen wurden mit Bussen evakuiert. Personen sollen keine zu Schaden gekommen sein. In einem Stadtteil von Kriwi Rih blieben wegen der Zerstörung einer Wasserleitung über 5000 Menschen zwischenzeitlich ohne Wasser.

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In der Stadt, die in der südlichen Ukraine liegt, leben rund 625’000 Menschen. Bis zum Donnerstagvormittag gelang es Zivilschützern und Militärs, die Lage am Fluss Inhulez zu stabilisieren. Nach Reparaturen sei der Wasserpegel zurückgegangen und die Wasserversorgung wiederhergestellt, teilten die Behörden mit. Die Lage in den Stadtteilen, in denen Überschwemmungsgefahr drohe, werde ständig überwacht.

Unmittelbar nach den russischen Raketenangriffen auf Kriwi Rih war eine Hochwasserkatastrophe befürchtet worden. Der ukrainische Präsident Selenski sprach von einem Versuch der Russen, seine Heimatstadt unter Wasser zu setzen. Der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba nannte die Angriffe ein Kriegsverbrechen und einen Terrorakt.

Dieses von den ukrainischen Behörden veröffentlichte Bild zeigt Schäden am Damm des Wasserreservoirs nahe der Industriestadt Kriwi Rih.

Russlands Raketenschläge gegen Selenskis Heimatstadt waren wohl nicht nur ein Racheakt, sondern auch aus strategischen Gründen kein Zufall. Die Attacke auf den Staudamm war nach Einschätzung von Experten ein Versuch, die ukrainische Südoffensive in Richtung Cherson zu stoppen oder zumindest zu bremsen, indem der Inhulez-Fluss geflutet und dadurch Pontonbrücken der Ukrainer weggeschwemmt wurden, wie auch Videos und Fotos in den sozialen Medien zeigen. Weiter südlich bei Cherson bildet der Inhulez, der ein Nebenfluss des Dnjepr ist, derzeit die Frontlinie zwischen ukrainischen und russischen Truppen. Der höhere Wasserstand erschwert ein Passieren des Flusses.

Auch nach Ansicht des Instituts für Kriegsstudien in Washington, das in seinen täglichen Lageberichten auch russische Quellen wie Militärblogs auswertet, versuchen die russischen Streitkräfte, Vorstösse der Ukrainer über den Inhulez zu verhindern. Es ist Kiews Ziel, Cherson zurückzuerobern.

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Die massiven Raketenangriffe auf die Wasserinfrastruktur von Kriwi Rih erfolgte, nur wenige Tage nachdem Russland in der Stadt Charkiw und deren Umgebung die Stromversorgung lahmgelegt hatte. Auch in anderen Städten wie Mikolajiw, Saporischschja oder Dnipro beschiesst Moskau kritische Infrastruktur. Der intensivierte Beschuss von ziviler Infrastruktur ist eine Reaktion der Invasoren auf die erfolgreiche Gegenoffensive der Ukrainer im Nordosten ihres Landes.

Am Donnerstag hat das russische Militär gemäss eigenen Angaben erneut Kriwi Rih mit Raketen angegriffen. Diese hätten Industrieobjekten gegolten, teilte die lokale Militärverwaltung mit. Die Zerstörungen seien «ernsthaft».

Vincenzo Capodici, 15. September 2022

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